Als der Kölner Kardinal einen "Kardinalfehler" beging und sich in seiner Kunstkritik nicht nur kunstmetaphysisch äusserte, sondern auch politisch, und zwar inkorrekt, weil er eine belastete Vokabel benutzte, die von der "entarteten Kunst", ging ein Aufschrei durch die Lande. Es herrschte schiere Einhelligkeit in der Ablehnung. Das Wort wirkt immer noch wie ein Alarmzeichen. Aber Alarm wofür? Dass ein Kirchenfürst nazistische Kunsttheorie revitalisieren wolle? Würde, falls das der Fall wäre, was es nicht ist, dieses eine Wort, diese Vokabel, dieser Begriff, es verraten oder indizieren?
Es ist gut, wenn Sensibilität herrscht und schon "früh genug" aufgemerkt wird. Doch die selbst schon zum Reflex verkommene Reaktion ist mir verdächtig nicht dafür zu stehen, wofür sie sich ausgibt. Zudem wird die religiöse Kunstauffassung damit überdeckt und gar nicht mehr debattiert. Es fragt auch kaum wer, weshalb so bekannte Künstler und Architekten Auftragnehmer von Kirchen werden, sich in Sakralkunst üben (Gerhard Richter), Weihestätten planen und einrichten (Peter Zumthor), und weshalb dann Kritiker und andere Berufene sofort aufschreien, wenn der Kirchenvertreter, der professionelle Metaphysiker, seine Sicht reklamiert.
Hätte der Kölner Kardinal Joachim Meisner dieses eine Wort nicht gewählt, wie sensibel, aufmerksam wäre die Reaktion gewesen? Hätten so viele reagiert? Wohl kaum. Die meisten sind eingestimmt auf Schlüsselreize. Fehlen die, wird vieles Nachdenkenswerte erst gar nicht wahrgenommen. Das Einfordern einer christlichen, gar katholischen Kunsttheorie oder zumindest -metaphysik ist aber, nach all der Aufklärung, nach all den Niedergängen, die die Kirchen durchmachten, bedeutsam und selbst ein Alarmzeichen.
Es scheint, als ob die konsequenten Religiösen auch und gerade in der Kunst versuchen einzufordern, was sie in ihrem Wertefeld wiederzuerstarken wünschen: Verbindlichkeit nach ihren Normen. Darin sind sie ihren Antipoden, den realkommunistischen Weltbeglückern verwandt, haben die doch für einige Zeit erfolgreich diese Haltung übernommen und praktiziert. In Restfeldern unverbesserlicher "Roter", sich kommunistisch wähnender Beglücker wird auch vielerorts die orientierungslose Unverbindlichkeit der Postpostmoderne beklagt, wird nostalgisch der schönen Zeit gedacht, als das klare Weltbild des Marxismus-Leninismus Sicherheit verbürgte, nicht nur für den Fünfjahresplan, sondern für Kultur, Kunst und Erziehung. Das waren noch Zeiten, als der Realismus sozialistisch war! Je stärker die Überzeugung der Richtigkeit des eigenen Weges und Modells, der eigenen Theorie, desto deckungsgleicher wurden die orthodoxen Christen auf der einen Seite, als "Gläubige", mit den orthodoxen Linken auf der anderen Seite, die sich als Vertreter eines "wissenschaftlichen" Sozialismus verstanden. Die extremsten Vertreter der anscheinend antagonistischen Bewegungen konnten sich am leichtesten verstehen, weil ihre Logik ident war.
Und tatsächlich klingt einige rot eingefärbte Gesellschafts- und Kunstkritik wie ein Wehklagen und Trauern nach den alten Zeiten, als durchgesetzte Normen Sicherheit boten. Denn der Hauptmangel heute ist die Unverbindlichkeit, die Pseudooffenheit, die kaum einen Positionsbezug ermöglicht, wenn man ihn überhaupt noch will.
Wenn alles frei ist, wenn alles möglich ist, wenn Technik und Glamour Inhalte ersetzen, wenn Handlung im Theater sich auf Bewegung reduziert, wenn Inhalte ausgetrieben werden, weil Lautäusserung oder ästhetische Bewegung schon genügen (die Tanzkulte sind dafür ein deutliches Anzeichen), dann wird es schwierig irgend etwas von "Botschaft" oder "Moral" oder "Anliegen" oder "Ideologie" oder sonst was, das über sich hinausweist, festzumachen. Das schafft eine Leere, die nicht immer durch hurtig fabrizierte Kulturindustrieprodukte zu füllen ist. Auch die smarte Inszenierung von Mega-Events, anstatt bloss "Events", das Fokussieren auf Personen, die man als Persönlichkeit illustriert, auch wenn sie Schnösel sind, wie die Regietheaterfledderer (wie Sebastian Hartmann, den die Wiener immerhin durchfallen liessen; bravo!), vermag nicht immer abzulenken und zu substituieren.
Im Verein mit den islamischen Fundamentalisten sehen christliche Kirchen, nicht nur die Katholiken, neue Chancen einer Revitalisierung. Offensichtlich wirken die Normvorgaben, Werteeinforderungen, wenn sie glaubwürdig rigide, intolerant praktiziert werden. Eine langgeübte Pseudotoleranz kommt diesen Bewegungen zugute, so dass es immer leichter wird, Freiheiten als Unverbindlichkeiten zu denunzieren, nur weil tatsächlich viel Unverbindliches in Freiheit produziert und praktiziert wird.
Ich wünschte mir eine Auseinandersetzung ohne solch religiöse oder überholte ideologische Vorgaben. Auf alle Fälle ohne Pseudoargumente, die es bei Reflexhandlungen belassen. Das ist zu wenig.