Anton Graff. Gesichter einer Epoche

Zum ersten Mal seit einem halben Jahrhundert widmet die Nationalgalerie Anton Graff, dem bedeutendsten Bildnismaler der deutschen Aufklärung, wieder eine umfassende Einzelausstellung. Wie kein Zweiter hat Graff das Bild von Aristokratie und Bürgertum, von Dichtern und Denkern an der Schwelle zur Moderne geprägt. "Unter hundert Bildern in meinem Tempel der Freundschaft ist nur eins von Graff; wär ich ein Banquier oder der König der Dänen, so wären sie alle von Graff", schrieb der Dichter Johann Wilhelm Ludwig Gleim bewundernd über den Künstler. Für den Berliner Kupferstecher Daniel Chodowiecki war er sogar der "größte Portrait Mahler dieses Jahrhunderts – es ist eine unbeschreibliche Wahrheit in (...) seinen Bildern".

Graff besaß die Gabe, die menschliche Individualität, ihr emotionales und geistiges Wesen, physiognomisch und psychologisch präzise zu erfassen und mit unvergleichlicher Treffsicherheit wiederzugeben. Der Philosoph und Kunsttheoretiker Johann Georg Sulzer, der Schwiegervater des Künstlers, schilderte Graffs Fähigkeit, "bis in das Innere der Seele" blicken und die "ganze Physiognomie in der Wahrheit der Natur" darstellen zu können. Vor allem die Augen, die Offenheit und Aktivität signalisieren und gleichsam Kontakt mit dem Betrachter aufnehmen, konnte Graff meisterhaft darstellen. Otto Waser bezeichnete 1926 die besondere Ausstrahlung der Werke Graffs mit "Blickmagie".

Eines der Bildnisse voller "Blickmagie" ist das Porträt der 18-jährigen Auguste, das der Künstler von seiner jungen Frau 1771, im Jahr der Hochzeit, schuf. Bis heute ist der unverwechselbare lebendige Ausdruck der Bildnisse Graffs überaus ansprechend. Graff konzentrierte sich meist ganz auf das Antlitz, setzte dieses ins Licht und verlieh der Komposition durch sparsame, aber äußerst wirkungsvoll gewählte leuchtende Farbkontraste der Kleidung malerische Delikatesse. Im Laufe seines Schaffens entwickelte er verschiedene Malweisen, von der detailgetreuen Wiedergabe des Sichtbaren bis zu einer raschen, bisweilen skizzenhaft anmutenden Ausführung. In dieser kühnen Entwicklung vom Spätbarock bis zum Beginn der Moderne zeigt sich die außergewöhnliche Kreativität des Künstlers.

Der aus Winterthur stammende Graff hat als Hofmaler von Dresden aus eine internationale Karriere durchlaufen, die seinen Ruf und seine Werke von Winterthur bis Wien und von Warschau bis London und Paris trug. Könige und Fürsten ließen sich von ihm malen. Vor allem der Adel, etwa Minister, Gesandte, Geheimräte, hohe Offiziere haben sich seiner Kunst bedient. Das aufstrebende Bürgertum, Bankiers, Kaufleute, Kunstsammler, Verleger, Ratsherren, Bürgermeister und Geistliche, Wissenschaftler, Gelehrte und Künstler und ihre emanzipierten Frauen gehörten zu seinen wichtigsten Auftraggebern.

Der produktive Künstler hinterließ ein Œuvre von ca. 2000 Werken. Seine Bildnisse fanden weite Verbreitung durch eigenhändige Wiederholungen, durch Kopien sowie durch graphische Reproduktionen. Graff hat seine Zeitgenossen nicht im Gestus der Repräsentation wiedergegeben. Vielmehr lag ihm daran, das Wesen des Einzelnen, unabhängig vom Stand, zu erfassen. Auch heute noch spricht die zeitlose Würde der Porträtierten unmittelbar aus seinen Werken. Graffs Interesse am Menschen, sein Respekt vor der Individualität ließ ihn, wie Ekhart Berckenhagen formulierte, eine "Gemeinschaft von Weltbürgern" vergegenwärtigen. Unter den mehr als 1000 Personen, die Graff im Laufe seines Lebens porträtierte, waren zahlreiche berühmte Dichter und Denker, darunter Gotthold Ephraim Lessing, Moses Mendelssohn, Henriette Herz, Friedrich Nicolai, Elisa von der Recke, Dorothea Schlegel, Johann Gottfried Herder und Friedrich Schiller. Der Künstler hinterließ eine Galerie der führenden kreativen Geister des 18. und frühen 19. Jahrhunderts, die ihresgleichen sucht.

Graff war zu seiner Zeit der beste Bildnismaler im deutschsprachigen Raum und porträtierte die Besten seiner Zeit. Dieses Zusammentreffen großartiger Bildniskunst mit der Darstellung herausragender Persönlichkeiten der Aufklärung ist einzigartig. Graffs bedeutender Porträtmalerei die gebührende Präsenz zu verleihen gehört zu den Zielen dieser Retrospektive, die anlässlich des 200. Todestages des Künstlers in Kooperation mit dem Museum Oskar Reinhart, Winterthur entstand. Dort sind rund 80 Werke vom 22. Juni bis 29. September 2013 zu sehen. In der Alten Nationalgalerie Berlin wird die Ausstellung anschließend in erweiterter Form mit rund 140 Werken vom 25. Oktober 2013 bis 23. Februar 2014 gezeigt. Der gemeinsam erarbeitete Katalog stellt eine umfangreiche Auswahl der Bildnisse Graffs erstmals farbig dar und erschließt neue Erkenntnisse zum Künstler und seiner Zeit.

Anton Graff. Gesichter einer Epoche
25. Oktober 2013 bis 23. Februar 2014