Anna Jermolaewa in der Kunsthalle Krems

Eine retrospektiv angelegte Ausstellung von Anna Jermolaewa bietet mit Werken aus den Jahren 1996 bis 2012 den bisher umfassendsten Einblick in ihr Schaffen. Die Künstlerin arbeitet vornehmlich in den Medien Fotografie, Video und Installation, wobei videografische Arbeiten den größten Stellenwert einnehmen. Ihr zentrales Interesse gilt der Analyse funktionaler Strukturen von Gesellschaft sowie der Fokussierung auf soziale Beziehungssysteme alltäglicher Lebensumstände.

Immer wieder stehen dabei die Grundbedingungen der menschlichen Existenz und die Natur des Menschen im Mittelpunkt ihrer Betrachtung. Komplexe politische und gesellschaftliche Sachverhalte werden mittels präziser filmischer Kompositions- und Aufzeichnungsschemata mit einfachen Mitteln zu eindrücklichen, bedrückend-absurden Metaphern verdichtet. Ein oft hintergründiger Humor ist den vielschichtigen Arbeiten eigen und ermöglicht eine vermeintlich leicht zugängliche Rezeption. Dahinter verbirgt sich jedoch stets ein äußerst kritisches Potential.

Dabei geht es Jermolaewa um das Verhältnis von Individuum und Masse, Freiheit und Restriktion, Macht und Ohnmacht, insbesondere auch um Zusammenhänge und Netzwerke hegemonialer Strukturen, in deren Einflussbereich weitreichende Entscheidungen getroffen werden. So ist ihre Kunstproduktion eine, die im Kontext der Geschichte die politischen, wirtschaftlichen und sozialen Implikationen analysiert und das Ausgeliefertsein sowie die Möglichkeiten der Einflussnahme des Individuums durch ein widerständiges Bewusstsein metaphorisch erkundet und damit auch das Potential der Kunst für die Gesellschaft andeutet.

Formalästhetisch stehen ihre Arbeiten konträr zu standardisierten Erwartungen und herkömmlichen Sehgewohnheiten. Dies liegt an ihrem direkten Blick, der nicht auf das Spektakuläre, sondern auf die kleinen Details des Alltags gerichtet ist. Ihre Fotografien und Videos geben Auskunft über eine Welt des Scheiterns, über bewusste und unbewusste Ängste, und nicht zuletzt über bestehende Sehnsüchte und Leidenschaften. Das Ergebnis sind komplexe Reflexionen über individuelles und kollektives Geschichtsbewusstsein, sind eindrückliche Bilder, die dem Betrachter in Erinnerung bleiben und dabei Augen wie Geist öffnen.

Mit ihrem Blick auf Geschichte und Geschichten schafft sie Orte der Erinnerung und bezeugt damit, dass diese nie herrschaftsfrei entstehen, sondern sich immer in einem offenen Bezugssystem neuer Einflüsse kontextualisieren. Somit ist ihre Kunst auch eine Spurensicherung, mit der sie Phänomene der Geschichte und des Menschseins aufzeichnet, bewusst macht und speichert.

Anna Jermolaewa
18. November 2012 bis 17. Februar 2013