Angela Glajcar lässt aus Papier raumgreifende Arbeiten von scheinbarer Leichtigkeit und poetisch anmutender Plastizität entstehen. „Flashback“ im Kunstraum Dornbirn bringt erstmalig zwei Werke der eindrucksvollen Serie „Terforation“ zusammen, die im Abstand von zehn Jahren entstanden sind. Die deutsche Künstlerin initiiert ein spannendes Wechselspiel, in welchem die Konstruktion und Dekonstruktion der architektonisch strukturierten Formen durch physische Gegenwart und Bewegung sowie durch den natürlichen Lichteinfall erfahren werden kann.
Die Titel „Flashback“ führen direkt zur Einordnung der Arbeiten: Sie halten mit 2009 und 2019 sogleich die Entstehungsjahre und mit 072 und 043 die Nummerierung im Werkverzeichnis fest, sowie die Verortung in der Werkserie „Terforation“. Seit 2006 erarbeitet die deutsche Künstlerin jene Serie, welche sich formal und in den Abmessungen sehr vielfältig und variabel zeigt.
Glajcars bevorzugter Werkstoff ist Papier, welches in großen Bögen in Form gerissen und, gleich einer Staffelung, zu raumgreifenden Gebilden addiert wird. Der Arbeitsprozess ist direkt, physisch fordernd und zeitintensiv. Die hohen Grammaturen von bis zu 450 g/m2 verleihen dem Papier, hängend und mit Hilfe mechanischer Vorrichtungen akkumuliert, eine räumlich-plastische Präsenz und Körperlichkeit. Durch die Risskanten öffnet Glajcar das Material. Die Faserschichtung und -laufrichtung im Inneren wird sichtbar, die Zusammensetzung nachvollziehbar. Die Zugabe von Bindemitteln oder Füllstoffen im industriellen Herstellungsprozess vereitelt nicht die pflanzliche Basis der Fasern, welche die organische Anmutung des Papiers erwirkt und den Werken eine Form der Natürlichkeit verleiht, die durch den Serientitel unterstrichen wird.
In Dornbirn steht man beim Eintreten in die große Industriehalle direkt vor dem monumentalen Werk „2009-072 Terforation“, welches 2009 erstmalig in der Kunst Station St. Peter in Köln präsentiert wurde. An einer Halterung aus Metall und Kunststoff hängen auf zehn Metern Länge eine Vielzahl aufgefädelter Papierbögen. Sie formen eine Art Welle, die am höchsten Punkt vier Meter erreicht. Jeder Bogen wurde per Hand bearbeitet und mit einem Loch je unterschiedlichen Ausmaßes versehen, welches sich sodann tunnelartig als Hohlraum durch den aus Papier geformten Körper zieht. Am tiefsten Hängepunkt der Installation ist man durch eine Aussparung eingeladen einzutreten und ins Innere zu blicken. Auch die Außenkanten mancher Papiere wurden angerissen und deren geradlinige Unversehrtheit unterbrochen, was dem gesamten Gebilde zusätzlich einen ambivalenten Charakter zwischen Kontur und deren Auflösung verleiht.
Ein bestimmender Faktor dieser immanenten, hochästhetischen Ambivalenz ist das Licht, welches auf die reflektierenden Papiere, die Risskanten oder in die Zwischenräume scheint. Hier bietet die ehemalige Industriehalle des Kunstraum Dornbirn eine besonders reizvolle Umgebung: Das natürliche Licht, welches durch die großen, rundumlaufenden Sprossenfenster die Stimmung im Inneren im Tagesverlauf und wetterabhängig gestaltet, wird die papiernen Oberflächen und skulpturalen Körper in ein spannendes, sich ständig veränderndes Wechselverhältnis mit dem Raum treten lassen.
Das zweite Werk der Ausstellung, „2019-043 Terforation“, war 2019 im Sharjah Art Museum zu sehen. Mit einer Länge von 4,8 Metern und einer Breite von 4,6 Metern hält diese Arbeit ein grundsätzlich anderes Erleben der Form bereit. Über dem Boden schwebend ist sie auf einen Blick nicht vollständig erfassbar. Die Papierbahnen reihen sich an mehreren Strängen auf, formen sich zu Rundungen oder bilden Fächer. Alles scheint einem Punkt zu entspringen und sich in sich zu schließen, doch dieser Eindruck wird beim physischen Umrunden immer wieder ad absurdum geführt, indem die eben noch geschlossene Form sich öffnet und aufzulösen scheint. Die gerissenen Kanten und Löcher bilden durch die fließenden Formen einen höchst reizvollen Gegensatz zur Materialität. Die Künstlerin experimentiert innerhalb der Arbeiten und in Beziehung zu dem jeweils beherbergenden Raum mit einem Wechselspiel aus Konstruktion und Dekonstruktion von raumgreifenden Formen. Ihre Gebilde bewegen sich – immer bestimmt vom Blickwinkel – zwischen den Sphären des Abstrakten und Gegenständlichen, ohne sich schlussendlich festzulegen. Sie sind geprägt von der scheinbaren Leichtigkeit und poetisch anmutenden Plastizität des Papiers und der architektonisch-strukturierten Konzeption. Durch das sich verändernde Tageslicht ist unser Erleben immer situativ und einmalig – wiederkommen lohnt sich.
Angela Glajcar (*1970, Mainz, Deutschland) studierte von 1991 bis 1998 Bildhauerei an der Akademie der Bildenden Künste Nürnberg. Von 1998 bis 2004 hatte sie Lehraufträge ebendort sowie an der Fachhochschule Mainz und den Universitäten Gießen und Dortmund, 2007 und 2008 eine Gastprofessur an der Universität Gießen. Die Werke Glajcars sind weltweit in zahlreichen Einzel- und Gruppenausstellungen gezeigt worden, wie beispielsweise der Landesgalerie Niederösterreich in Krems, im Jeonbuk Museum of Art South Korea und dem Haus des Papiers, Berlin (beide 2021), dem NMWA National Museum of Women in the Arts, Washington (2020), im Sharjah Art Museum (2019), Les3Cha centre d'art Châteaugiron (2018), dem CODA Museum Apeldoorn (2017) und einer permanenten Installation im Museum Wiesbaden (seit 2017).
Angela Glajcar - Flashback
Ausstellungsdauer 21. Juni bis 1. Dezember 2024
Eröffnung Donnerstag, 20. Juni 2024, 19 Uhr
Im Rahmen der Eröffnung findet eine eigens entwickelte Tanzperformance mit dem Titel „Sound Layers“ innerhalb der Ausstellung statt. Mark Nowakowski und Jonas Marx (Tanz), Florian Betz (Musik)
Künstlerinnengespräch Freitag, 21. Juni 2024, 14 Uhr