Als Brieftauben das Photographieren lernten

Absonderliche Blickwinkel, schräg liegende Straßenzüge, ins Bild fliegende Schlösser, geschwungene Kanäle – wenn Brieftauben fotografieren, entfaltet sich eine Welt wie eine Traumsequenz, deren Nachklang uns beim Aufwachen noch staunen und in den Traum zurücksehnen lässt. Vor über 100 Jahren erfand der hessische Apotheker Julius Neubronner (1852 - 1932) die Brieftaubenkamera. Sie war 40 Gramm leicht, trug einen komplizierten Selbstauslöser-Mechanismus und zwei Objektive, je eines auf der Vorder- und auf der Rückseite des Apparats. 1908 wurde sie patentiert.

Ergänzend zur Kamera entwickelte er den fahrbaren Taubenschlag mit einer bis zu sechs Meter hochschraubbaren Hebeplattform und einem Multi-Funktionsraum, der als Dunkelkammer oder Schlafraum dienen konnte. Er ermöglichte den mobilen Einsatz der Brieftaube, etwa zur militärischen Aufklärung. Doch Neubronners Bemühungen, das Militär vom Nutzen der Brieftaubenfotografie zu überzeugen, schlugen fehl. Das Fotografieren aus dem Flugzeug hat die Brieftaubenkamera überholt.

Julius Neubronner, der seit seiner Knabenzeit leidenschaftliche Amateurfotograf war, war geschäftstüchtiger Unternehmer, führte die Kronberger Apotheke im Rang eines Hofapothekers der Kaiserin Friedrich und gründete eine noch heute existierende Fabrik zur Herstellung von Papierklebestreifen. Neubronners Vorfahren lebten einst in Ulm, wo die Familie seit 1691 dem Ulmer Patriziat angehörte. Andere Ulmer Neubronners waren in Zünften organisiert. Julius Neubronners Urgroßvater verließ Ulm im Jahre 1749.

Die Ausstellung zeigt eine Auswahl der Fotografien, die Neubronners Tauben bei ihren Flügen von Landschaften rund um Kronberg, von Städten, Straßenfluchten und Häusern machten und die sich im Stadtarchiv Kronberg erhalten haben. Ergänzend zeigt das Ulmer Stadthaus das 2004 entstandene Brooklyn Pigeon Project der New Yorker Architekten Benjamin Aranda und Chris Lasch, die, ausgehend von ihrer Idee des Stadttaubenschwarms als experimentellem biologischen Satelliten, Tauben mit kleinen batteriebetriebenen Videokameras und Mikrofonen ihre spiralförmigen Bahnen über Brooklyn ziehen ließen. So kamen Aranda/Lasch an reale Vogelperspektiven auf ein grafisches Muster der Stadt.


Als Brieftauben das Photographieren lernten
28. November 2014 bis 18. Januar 2015