70. Locarno Festival: Goldener Leopard für "Mrs. Fang"

In einem Wettbewerb, in dem die klaren Favoriten fehlten, zeichnete die von Olivier Assayas geleitete Jury überraschend den chinesischen Dokumentarfilm "Mrs. Fang" mit dem Goldenen Leoparden aus. Der Preis der Fipresci, des Verbands der Filmkritiker, geht mit "Dragonfly Eyes" ebenfalls an einen chinesischen Film, während die Ökumenische Jury den Publikumsliebling "Lucky" prämierte.

Recht zahlreich war die Zahl der Filme, denen unter den 18 Wettbewerbsbeiträgen Chancen auf den mit 90.000 Schweizer Franken dotierten Hauptpreis zugestanden wurden. Die US-Indie-Perle "Lucky" zählte ebenso dazu wie der Dokumentarfilm "Did You Wonder Who Fired the Gun?", auch die palästinensische Vater-Sohn-Geschichte "Wajib" oder der rumänische Beitrag "Charleston" wussten zu überzeugen. Dass sich die Jury beim Hauptpreis anders entschied, kann man ja noch verstehen, dass diese vier Filme aber bei der Vergabe der offiziellen Preise völlig übergangen wurden, irritiert aber doch.

Stattdessen fiel die Wahl auf den Dokumentarfilm "Mrs. Fang", in dem Wang Bing in langen und ruhigen Einstellungen das langsame Sterben einer 68-jährigen Frau kommentarlos schildert. Unwohlsein löst dieser Film freilich aus, wenn die Kamera minutenlang in Nahaufnahme festhält, wie die nahezu bewegungsunfähige Frau mit halboffenem Mund in ihrem Bett liegt.

Auch wenn die Protagonistin dem Regisseur die Zustimmung zur Dokumentation ihres Sterbens gegeben hat, stellt sich angesichts der Tatsache, dass sie danach den Prozess aufgrund ihres Zustands nicht mehr stoppen konnte, keine Hoheit über das Bild mehr hatte, doch das Gefühl von Voyeurismus ein. Vielleicht aber will Wang Bing gerade auch solche Gedanken beim Zuschauer auslösen und in Zeiten der Allgegenwart von Bildern mit seinem Film die Frage nach ethischen Grenzen der filmischen Dokumentation aufwerfen.

Verstehen kann man, dass einem Regisseur wie dem Jury-Präsidenten Olivier Assayas, der in seinen Filmen auch gerne mit den Genres spielt, der brasilianische Werwolfgeschichte "As boas maneiras" gefiel. In seiner Eigenwilligkeit bot sich Juliana Rojas´ und Marco Dutras Spielfilmdebüt für den mit 30.000 Schweizer Franken dotierten Spezialpreis der Jury an, während der mit 20.000 Schweizer Franken dotierte Preis für die beste Regie für F. J. Ossangs "9 Doigts" doch wieder überrascht.

Sehr stimmungs- und stilvoll ist "9 Doigts" zwar in Schwarzweiß gefilmt, weckt zunächst Erinnerungen an die Gangsterfilme von Jean-Pierre Melville oder den Film noir, im Speziellen wohl an Robert Aldrichs "Kiss Me Deadly", doch je mehr man versucht bei der ziellosen Reise eines Schiffes nach Nowhereland eine Geschichte zu finden, desto mehr verliert man sich in den Handlungsfragmenten dieses Films und den prätentiösen philosophischen Dialogen. Zäh zieht sich so diese Auseinandersetzung mit der Sinnlosigkeit und Absurdität der Welt und der menschlichen Existenz dahin, auffallend freilich, dass "9 Doigts" der einzige wirklich sperrige Film im Wettbewerb war.

Der Preis als beste Schauspielerin für Isabelles Hupperts Leistung in Serge Bozons schrägem "Madame Hyde" geht zwar in Ordnung, doch statt des Weltstars hätte man wie bei den Männern mit dem Dänen Elliott Crossett Hove ("Vinterbrødre") durchaus auch eine jüngere Schauspielerin wie Johanna Wokalek ("Freiheit") auszeichnen können.

Für einen Crowd-Pleaser entschied sich dagegen die Ökumenische Jury, die ihren Preis John Carroll Lynchs wunderbarem "Lucky" zuerkannte. "Lucky" frage laut Begründung der Jury im Angesicht des nahen Todes nach dem Sinn des Lebens und zeige wie der greise Protagonist, obwohl zornig, ängstlich und alleine, nach und nach lerne andere zu lieben und schließlich eine dem Leben zugrundliegende Spiritualität zu erkennen.

Überraschend wirkt dagegen wieder die Vergabe des Fipresci-Preises an Xu Bings "Dragonfly Eyes". Es ist zwar durchaus interessant, wie Bing einzig aus Aufnahmen von Überwachungskameras, die durch einen Off-Erzähler und Dialoge ergänzt werden, eine Geschichte konstruiert, doch einen guten Film ergibt das noch kaum. Zu fremd bleiben einem die Figuren, zu beliebig die Bilder, als dass diese inhaltlich spannende Auseinandersetzung mit Realität und Täuschung, aber auch mit Wirklichkeit und virtueller Welt, auch formal überzeugen könnte.

Preisträger 2017