70. Locarno Festival: Folgenreiche Metamorphosen

Während der Protagonist in Samuel Benchetrits "Chien" alles stoisch hinnimmt und sich sogar in die Rolle eines Hunds drängen lässt, befreit sich Isabelle Huppert als Lehrerin in Serge Bozons "Monsieur Hyde" aus der Opferrolle. Bedenkliche Folgen bringt das Streben des jungen David in Dominik Lochers "Goliath" seine physische Verfassung zu verändern, weit drastischere Folgen hat diese Veränderung freilich für einen Jungen im brasilianischen Wettbewerbsbeitrag "As boas maneiras".

Als kühn muss man die Entscheidung des künstlerischen Leiters Carlo Chatrian ansehen Samuel Benchetrits "Chien" auf der Piazza Grande zu zeigen. Mit so unerbittlicher Konsequenz, dass es weh tut und einem das Lachen bald nur noch im Hals stecken bleibt, erzählt der Franzose, der vor zehn Jahren mit dem Schwarzweißfilm "„J´ai toujours rêvé d´être un gangster" in Locarno einen melancholischen Gangsterfilm präsentierte, von einem völlig willenlosen Mann (Vincent Macaigne), der alle Demütigungen emotionslos über sich ergehen lässt.

Nichts sagt er, als seine Frau sich von ihm trennt, standhaft weigert er sich seinen Chef zu verklagen, als dieser ihn entlässt, und auch als die Bank seine Kreditkarte sperrt und ein neuer Liebhaber bei seiner Frau einzieht, bleibt Jacques ruhig. Einzig der Tod seines Hündchens, das unmittelbar nach dem Kauf von einem Bus überfahren wurde, rührt ihn.

Weil Jacques mit dem Hundekauf auch Trainingsstunden gebucht hat, will er diese auch in Anspruch nehmen. Da er aber keinen Hund dabei hat, wird er vom sadistischen Tierhändler sofort selbst in die Rolle des Hundes gedrängt, lernt auf die Befehle "Sitz", "Platz" und "Bei Fuß" entsprechend zu reagieren und brav auf allen Vieren den Ball zu apportieren. – Im wahrsten Sinne des Wortes "hündisch" ist sein Verhalten, doch wird er gerade mit dieser Unterordnung - wenn vielleicht auch nur im Traum - seiner Frau und seinem Sohn schließlich näher kommen, als es ihm als Mensch je gelungen ist.

Kaum weniger herumgeschubst und gedemütigt als diese bedauernswerte Figur wird auch die Lehrerin Madame Géquil in Serge Bozons Wettbewerbsbeitrag "Madame Hyde". Isabelle Huppert hat wohl gerade gereizt hier für einmal eine schwache, blasse und ängstliche Frau, die in der technischen Schule, in der sie unterrichtet, nur den Wänden entlang geht, zu spielen.

Die SchülerInnen machen in ihren Physikstunden, was sie wollen, verspotten sie und bespritzen sie mit Tinte, äußern bei der Klassenkonferenz ihre Beschwerden über den rein theoretischen Unterricht. Der von Romain Duris völlig überzogen gespielte und als Karikatur angelegte Direktor ist ihr auch keine Hilfe, Rückhalt findet sie einzig bei ihrem sie liebevoll als Hausmann bekochenden Mann, dessen pädagogischen Tipps ihr aber auch nicht helfen.

Mehr Veränderung bringt da schon ein Blitzschlag, der sie trifft, und aus Madame Géquil Madame Hyde werden lässt. Im Gegensatz zu Stevensons Roman bringt das Ereignis aber nicht die dunkle Seite der Protagonistin zu Tage, sondern lädt sie nur mit Energie auf, sodass sie mit einem großen Projekt und ihrer Leidenschaft auch die Klasse für sich gewinnen kann.

Was von der Anlage durchaus interessant klingt, leidet doch sehr unter der Unentschlossenheit von Bozons Inszenierung. Mal gibt sich "Madame Hyde" nämlich als Parodie auf Schulfilme oder auch als Satire auf das Bildungssystem, dann wird wieder durchaus ernsthaft Denkaufgaben viel Platz eingeräumt, die Frage nach dem Stellenwert von abstrakter Denkfähigkeit kontra konkretem Versuch, von Bildung und Lebensglück aufgeworfen.

Während Madame Géquil als fantastische Lichtgestalt durch die Nacht wandelt, das Eis bei einem Fischstand ebenso zum Schmelzen wie eine Parkbank zum Verschmoren bringt, orientiert sich die Verwandlung des jungen David in Dominik Blochers Wettbewerbsbeitrag "Goliath" mehr an der Realität.

Weil der schmächtige Mann seine schwangere Freundin Jessy nicht gegen den Angriff eines Schlägers schützen kann, aber sich nun nicht nur für sie, sondern auch das ungeborene Kind verantwortlich fühlt, beginnt er nicht nur im Fitnesscenter zu trainieren, sondern auch Anabolika zu spritzen. An Muskelmasse legt er so durchaus zu, doch nicht nur Impotenz, sondern auch zunehmende Arroganz und Aggressivität sind die Folgen.

So sprunghaft Davids Stimmungswechsel sind, so sprunghaft wechseln leider auch die Szenen zwischen Davids Arbeitsplatz, zunehmenden Auseinandersetzungen mit Jessy, Treffen mit Freunden oder Jessys Eltern und Aufenthalten im Fitnesscenter. Weil die Szenen kurz bleiben, nicht wirklich entwickelt oder verdichtet werden, holpert "Goliath" trotz der gut harmonierenden Hauptdarsteller Sven Schelker und Jasna Fritzi Bauer mehr schlecht als recht dahin und haften bleibt nur die Warnung vor der Einnahme von Anabolika.

Ungleich drastischer ist freilich die Verwandlung, auf die sich der brasilianische Wettbewerbsbeitrag "As boas maneiras" hin entwickelt. Ganz realistisch lassen Marco Dutra und Juliana Royas ihren Film in einem schicken Apartment in Sao Paolo mit der Einstellung der farbigen Clara als Haushälterin und zukünftiges Kindermädchen der schwangeren Ana beginnen.

Was als Studie von Klassengegensätzen beginnt, wird bald zu einer Beziehungsgeschichte, bei der Clara entdecken muss, dass Ana bei Vollmond nicht nur schlafwandelt, sondern auch großen Blutdurst entwickelt. Was so als starkes Sozialdrama beginnt, wandelt sich damit langsam zum Genrefilm, bis Dutra/Royas mit einer an "Alien" erinnernden blutigen Geburt des Kindes ganz auf diese Ebene einschwenken, hier aber kaum mit Überraschungen aufwarten können.

Irritierend wirken hier auch Passagen, in denen die Protagonisten im Stil eines Musicals singen, haften bleibt aber auf jeden Fall, die als konzentriertes Kammerspiel inszenierte erste Stunde. Lesen kann man diesen interessanten, aber nur teilweise gelungenen Film gerade in Bezug auf den Titel "As boas maneiras" auch - ähnlich wie Nicolette Krebitz` "Wild", dessen verstörende Radikalität und Konsequenz hier allerdings nicht gesucht wird - als Reflexion über anerzogenes menschliches Verhalten und darunter schlummernden animalischen Trieb, über die Abgründe unter der dünnen Schicht der Zivilisiertheit, aber auch über Mutterschaft und den Umgang mit Fremdem.