67. IFFMH: Starke Frauen in engagierten Filmen

Sozialrealistisches Kino zeichnete die Jury des 67. Internationalen Filmfestivals Mannheim-Heidelberg mit der Vergabe des Grand Newcomer Awards an "Orange Days" des Iraners Arash Lahooti aus. Auch der Fipresci-Preis der Internationalen Filmkritik und der Preis der Ökumenischen Jury wurde an dieses Drama vergeben. Der Publikumspreis dagegen ging an den geschickt Komödie und Drama, Märchen und Realismus mischenden marokkanisch-französischen "Kochfilm" "Tazzeka".

Ein realistischer Blick auf die Welt und die Menschen kennzeichnete viele Filme des heurigen Filmfestivals Mannheim-Heidelberg. Formale Experimente fanden sich kaum, die Themen bestimmten die Form. Auffallend oft standen dabei Frauen im Zentrum der Filme.

So erzählt der iranische Dokumentarfilmer Arash Lahooti in seinem Spielfilmdebüt "Orange Days" von der Besitzerin einer Orangenplantage, die mit beruflichen ebenso wie mit privaten Problemen zu kämpfen hat. In jeder Szene ist die von Hadieh Tehrani stark gespielte Mittvierzigerin Aban präsent, auf Schritt und Tritt folgt ihr der Film. Stets ist sie unterwegs, wirkt gehetzt und nie kommt über ihr Gesicht ein Lächeln.

Verständlich ist das, denn dicht vermittelt Lahooti die vielfältigen Fronten, an denen sie zu kämpfen hat. Einerseits muss sie sich gegen männliche Konkurrenten durchsetzen, um einen Auftrag für eine Orangenlieferung zu erhalten, andererseits muss sie sich um ihre Erntehelferinnen kümmern. Nicht genug damit muss sie auch noch den Diebstahl eines großen Teils der Ernte verkraften und die Arbeiterinnen drohen mit Streik wegen Verzögerung der Lohnzahlung, während die Polizei wiederum deren Unterbringung beanstandet. Zwar hat Aban einen Mann, doch der ist mehr ein Klotz am Bein als wirklich hilfreich.

Lahooti bietet klassisches sozialrealistisches Kino und lotet um die Protagonistin herum geschickt die Problemfelder aus, beeindruckender in seiner formalen Konsequenz war aber das Regiedebüt der 27-jährigen Chilenin Constanza Figari. Der Fokus von "7 Semanas" liegt ganz auf dem Gesicht der von Paulina Moreno großartig gespielten etwa 20-jährigen Camila. Die junge Frau studiert an der Uni Tanz und führt eine glückliche Beziehung mit Simon. Als sie feststellt, dass sie schwanger ist, freuen sich Simon ebenso wie dessen Eltern und Camilas Mutter – nur sie selbst kommt mit der neuen Situation nicht zurecht.

Blickt sie am Beginn noch fröhlich und gelöst, werden ihre Gesichtszüge zunehmend ernster und angespannter. Langsam reift in ihr der Beschluss das Kind abzutreiben. Obwohl weder ihre Mutter noch Simon die Entscheidung verstehen können, kauft sie schließlich das illegale Abtreibungsmittel und führt den Abort medikamentös durch.

Nur gut 60 Minuten dauert diese konzentrierte Studie, die sich ganz auf die Entscheidungsfindung Camilas konzentriert und auch ein Kommentar zur aktuellen chilenischen Debatte über das Gesetz "Tres Causales" ist, durch das bei drei Gründen eine Abtreibung legal durchgeführt werden darf, überzeugt aber durch seine formale und inhaltliche Konsequenz.

Ein drittes Kind bekommen möchte dagegen die Protagonistin in Zhenyu Suns "Pure Land", doch in China muss sie dafür eine Geldbuße bezahlen. Weil aber Jin Feng, deren Mann weit entfernt von ihr arbeitet, das Geld dafür nicht aufbringen kann, wird sie von Parteifunktionären verschleppt und gewaltsam zur Abtreibung gezwungen.

So hart der Stoff klingt, so leise und ruhig erzählt Sun in langen statischen Einstellungen in diesem in kalte Grau- und Blautöne getauchten Film. Diese bedächtige, poetische Erzählweise nimmt "Pure Land" allerdings einiges an Durchschlagskraft, die man sich bei einem Film zum Thema "Ein-Kind-Politik" doch gewünscht hätte.

Am Puls der Zeit ist auch die Isländerin Isold Uggadóttir, wenn sie in "And Breathe Normally" eine am Existenzminimum lebende alleinerziehende Mutter und eine Migrantin aus Guinea Bissau aufeinandertreffen lässt. Mit einem Job bei der Passkontrolle am Flughafen könnte sich die finanzielle Misere der Frau entspannen, pflichtbewusst prüft sie deshalb auch den Pass der Afrikanerin genau und lässt sie statt nach Kanada ausreisen ins Asylantenheim bringen.

Immer wieder laufen sich die beiden Frauen in den folgenden Tagen aber über den Weg und die Migrantin hilft dabei mehrfach der Isländerin, die sich freilich dafür revanchieren wird. Konstruiert mag die Zusammenführung der beiden Frauen sein und insgesamt zu viel hat Ugadóttir in ihr Spielfilmdebüt gepackt, aber dieses Frauendrama besticht und bewegt dennoch durch die realistische und einfühlsame Schilderung der Situation von Flüchtlingen, die auf die Anerkennung ihres Asylgesuchs oder ihre Abschiebung warten, sowie im Plädoyer für Menschlichkeit und der Feier der Solidarität der Frauen.

Am Rande stehen die Frauen dagegen in Ömür Atays "Kardesler – Brothers". Nach vier Jahren Haft wird der 17-jährige Yusuf aus dem Gefängnis entlassen. Aufmerksam kümmert sich sein Bruder um ihn, doch weniger aus Empathie als vielmehr, weil er fürchtet, dass Yusuf die Wahrheit über die damaligen Ereignisse verraten könnte.

Weil ihre Schwester damals nämlich mit einem nicht akzeptierten Mann durchbrannte, wurde sie auf Anweisung des Onkels ermordet. Yusuf fungierte dabei zwar "nur" als Lockvogel, nahm aber den Mord auf sich, weil er aufgrund seines jugendlichen Alters eine geringere Straße zu erwarten hatte als sein Bruder, der die Tat beging.

Ruhig und leise, aber gerade dadurch intensiv erzählt Atay in diesem in kalte Farben und das heruntergekommene Milieu einer Raststätte an der Grenze zum Iran, die Yusufs Onkel und sein Bruder führen, getauchten Film von dieser Bruderbeziehung. Während der ältere machohaft auftritt, leidet der introvertierte Yusuf unter dem Verrat an der Schwester. Mit ihm verbreitet Atay auch Hoffnung auf eine Abkehr vom patriarchalen Denken, wenn Yusuf - auch als Wiedergutmachung für die schwer lastende Schuld - aktiv wird, als sein skrupelloser älterer Bruder übergriffig gegenüber einer jungen Frau wird, obwohl diese ihn klar zurückweist.

Lebensfreude und Sinnlichkeit verbreitet dagegen Jean-Philippe Gauds mit dem Publikumspreis ausgezeichnetes Spielfilmdebüt "Tazzeka" schon in den ersten Einstellungen, wenn der kleine Elias durch eine saftig grüne marokkanische Bergregion streift. Die Leidenschaft des Jungen gehört ganz dem Kochen, das er von seiner Großmutter gelernt hat. Bei seinem Weg nach Hause spricht er die Namen von Speisen und Gerichten ebenso vor sich hin wie später beim Einschlafen.

Mit einem Schnitt überspringt Gaud nach diesem Auftakt Jahre und Elias ist inzwischen ein junger Mann, doch seine Leidenschaft fürs Kochen ist geblieben. Er arbeitet im örtlichen Gemischtwarenladen und Restaurant und kann mit seinen Kochkünsten sogar einen Pariser Fernsehkoch, der zufällig mit seiner Frau vorbeikommt, begeistern.

Als Salma, mit der Elias eine zarte Liebe verbindet, die Heimat, in der sie als Frau überall eingeengt wird, verlässt, bricht bald auch Elias nach Frankreich auf. Die Reise spart Gaud aus, springt von Marokko direkt auf die Straßen von Paris, wo die illegalen Immigranten täglich ihre Dienste für Bauarbeiten anbieten, immer aber auch auf der Hut vor der Polizei sein müssen.

Wie bei einem guten Menü hat Gaud seinen Film gut abgemischt. Mit ausführlichen Koch- und Essenszenen, bei denen er Gerüche und Geschmack fast sinnlich erfahrbar macht, sowie mit der Farbintensität der Zutaten, aber auch der Kleider verbreitet er Lebensfreude und Wohlgefühl, verzichtet aber in der Schilderung der Lebens- und Arbeitsbedingungen der Migranten in Frankreich auch nicht auf ungeschminkten Realismus.

Sicher erzählt Gaud von Lebensträumen, die für Elias aufgrund der begrenzten Jobmöglichkeiten im marokkanischen Bergland, für Salma aufgrund der patriarchalen Gesellschaft in dieser Region beschränkt sind, macht aber auch den Preis erfahrbar, den sein Protagonist für die Verwirklichung seines Traumes mit der Flucht nach Frankreich zahlt. – Das ungetrübte Glück gibt es hier nicht, aber Gaud ist mit diesem leichthändigen Mix aus komödiantischen, romantischen und realistischen Momenten - wie auch die Auszeichnung mit dem Publikumspreis zeigt - ein echter Crowdpleaser gelungen.