66. Berlinale: Männliche Selbstfindung

Zwei Männer und ein außerirdischer Junge stehen im Zentrum der ersten Wettbewerbsfilme der heurigen Berlinale. In Mohamed Ben Attias Debüt "Hedi" befreit sich ein junger Tunesier von seiner dominanten Mutter, in Denis Côtés "Boris sans Béatrice" lässt die Liebe zu seiner Frau einen Geschäftsmann seine Arroganz ablegen und Jeff Nichols schließlich schickt in "Midnight Special" einen Vater mit seinem mit außergewöhnlichen Kräften ausgestatteten Sohn auf eine Flucht durch den Süden der USA.

Mit seinen ersten drei Filmen "Shotgun Stories", "Take Shelter" und "Mud" hat sich Jeff Nichols als starker junger amerikanischer Regisseur präsentiert, als einer, der seine Geschichten aus dem sozialen und geographischen Milieu heraus entwickelt und starke Charaktere schaffen kann.

Meisterhaft versteht es Nichols auch in "Midnight Special" Spannung aufzubauen, indem er den Zuschauer mitten in eine vermeintliche Kindesentführung hineinwirft und nur sukzessive Hintergrundinformationen liefert. Schritt für Schritt wird so, deutlich, dass der achtjährige Alton über außergewöhnliche Fähigkeiten verfügt und dass deswegen nicht nur eine Sekte, in der der Junge aufwuchs, sondern auch die Regierung hinter ihm her ist.

Während die einen in Alton einen Erlöser sehen, glauben die anderen hier eine neue Wunderwaffe oder auch eine nationale Bedrohung vor sich zu haben. Einzig der Vater will den Jungen nicht instrumentalisieren, ist einzig um sein Wohl bemüht und hat ihn deshalb mit einem Freund entführt, um mit ihm an einem bestimmten Termin einen bestimmten Platz zu erreichen.

Atmosphärisch dicht ist der Film in Texas und Louisiana verankert, erzählt von amerikanischer Paranoia und Sektenwahn ebenso wie von Vaterliebe und der Notwendigkeit ein Kind in die Selbstständigkeit zu entlassen.

So sorgfältig aber die Geschichte auch aufgebaut ist, so stark Nichols Stammschauspieler Michael Shannon wieder einmal als Vater agiert, so schwer leidet der Film an der Prämisse, dass der Junge nicht nur besondere, aber noch glaubwürdige Fähigkeiten hat, sondern gleich in fremden Sprachen sprechen und Satelliten vom Himmel stürzen lassen kann.

Nicht zusammenpassen wollen einfach der Realismus und der Ernst, den Nichols´ Inszenierung auf der einen Seite auszeichnet und die fantastische Komponente. Je mehr sich letztere in den Vordergrund drängt, desto schwerer tut man sich mit "Midnight Special", bis Nichols, der sonst so auf die Figuren fokussiert, die Flucht in einem bombastischen Science-Fiction-Finale enden lässt.

Ganz im Alltäglichen bleibt dagegen Mohamed Ben Attias "Hedi". Der Titel ist Programm, denn im Zentrum steht ganz dieser 25-jährige Tunesier. Ihm folgt die Kamera auf Schritt und Tritt, oft hautnah im Rücken wie bei den Dardennes, die dieses Debüt koproduziert haben. Und wie die belgischen Brüder verzichtet auch Attia vom Beginn und Ende abgesehen weitgehend auf Filmmusik.

Antriebslos wirkt der junge Mann, sein Leben wird ganz von seiner Mutter bestimmt und gelenkt. Er arbeitet zwar als Verkäufer für Peugeot, erhält aber von ihr Taschengeld. Seine Hochzeit, die nun unmittelbar bevorsteht, hat sie schon vor Jahren arrangiert.

Als Hedi aber kurz vor der Hochzeit in einer entfernten Stadt arbeiten muss, verliebt er sich in die 30-jährige Rim, die in einem Hotel als Animateurin arbeitet. Er beginnt eine Affäre, tritt endlich entschlossen gegenüber der Mutter, die ihn ständig mit dem erfolgreicheren älteren Bruder vergleicht, auf und sagt die Hochzeit ab.

Ein kleiner, aber sorgfältig aufgebauter Film ist das, der vom differenzierten Blick auf die Figuren und den Alltag lebt und eindrücklich in der Zerrissenheit Hedis zwischen Traditionsgebundenheit und Selbstbestimmung auch die Situation Tunesiens spiegelt. Verurteilt wird dabei auch nicht die Mutter, denn man glaubt ihr wirklich, dass sie immer das Beste für ihren Sohn wollte.

Wie Hedi beginnt auch der erfolgreiche Geschäftsmann Boris in Denis Côtés "Boris sans Béatrice" nach- und umzudenken. Anlass für ihn ist einerseits die Krankheit seiner Frau, die in eine schwere Depression verfallen ist, und andererseits die Begegnung mit einem mysteriösen Mann, der Boris mit seinem eigenen Charakter konfrontiert.

Scheint diesen arroganten Mann zunächst nichts erschüttern zu können, wenn er sich in der ersten Einstellung auf einer Wiese quasi mit einem Hubschrauber duelliert, so zerbricht seine Sicherheit zunehmend. Da macht er zunächst noch eine Verkäuferin nieder, genießt die Freizeit mit der Geliebten, die er gleichwohl auf Distanz hält, bei Schusstraining und auf einer Rennstrecke, und überlässt die Pflege der Gattin ganz einer jungen Russin, beginnt aber bald doch seine Tochter in ihrer WG und die Mutter im Altersheim zu besuchen.

Hochstilisiert ist das inszeniert, bietet mit großartigen Landschaftsaufnahmen und dem prächtigen Landhaus, in dem Boris lebt, visuelle Reize, und ist in einzelnen Szenen durchaus witzig, aber insgesamt fehlt es dieser Geschichte der Bekehrung eines kapitalistischen Toren, der die wahren Werte im Leben erkennt, doch an Biss und Durchschlagskraft.