65. IFFMH: Auf sich gestellt

Die ersten Wettbewerbsfilme des 65. Internationalen Filmfestivals Mannheim-Heidelberg (10.11. – 20.11. 2016) prägen auffallend viele Protagonisten, die sich allein in einer fremden Umgebung durchschlagen, gegen gesellschaftlichen Druck ihren Weg gehen oder mit einem traumatischen Verlust fertig werden müssen.

Ein idealer und auch typischer Eröffnungsfilm ist "Celui qu´on attendait – Lost in Armenia" des 1955 in Eriwan geborenen Franzosen Serge Avedikian. Im Mittelpunkt steht der von Patrick Chesnais mit sichtlichem Vergnügen gespielte Theaterschauspieler Bolzec, der nach einem Gastspiel in Aserbaidschan nach einer Taxipanne in den armenischen Bergen strandet. Die Dorfbewohner halten ihn zunächst für einen Spion, dann aber für den lange erwarteten Erlöser aus Frankreich, der hier investieren und die Infrastruktur ausbauen wird.

Liebevoll gemacht ist nicht nur der Einstieg, wenn eine Landkarte zur geopolitischen Lage des Schauplatzes mit einem animierten Auto, das über die Bergstraßen tuckert, bruchlos in den Realfilm übergeht, sondern auch schwarzweiße, in kleinerem Bildformat gehaltene Traumsequenzen. Klischees pflegt Avedikian zwar bei seinem warmherzigen Blick auf die Dorfgesellschaft und frönt auch dem Exotismus bei der Einbettung der Handlung in eine idyllische, in sommerlich warme Farben und Licht getauchte Berglandschaft, doch sieht der Regisseur selbst seinen Film ja auch als zeitloses Märchen.

Mit Patrick Chesnais als großartigem Zentrum und einem Gespür für witzige Szenen und Details spielt Avedikian so in dieser sehr menschlichen Komödie mit Verständigungsproblemen, aber auch mit dem Verhältnis von reichem Westen und armem kaukasischem Kleinstaat. Er lässt dabei nicht nur die Armenier den Franzosen mit Bauernschläue ausnutzen, sondern auch den zunächst so auf seinen Terminplan fixierten Franzosen auftauen, langsam Gefallen an diesem ruhigen ländlichen Leben finden.

Wie "Celui qu´on attendait – Lost in Armenia" auf Patrick Chesnais zugeschnitten ist, so lebt Sebatián Borenszsteins "Koblic" zu einem nicht unbeträchtlichen Teil vom charismatischen Ricardo Darin. Nach seiner erfolgreichen Komödie "Un cuento chino - Chinese zum Mitnehmen", die 2011 in Mannheim-Heidelberg ausgezeichnet wurde, setzt sich der Argentinier mit der Militärdiktatur von 1976 bis 1983 auseinander.

Inserts bieten Hintergrundinformationen zu den berüchtigten Todesflügen, bei denen die verschleppten Regimegegner aus Flugzeugen ins Meer geworfen wurden, ehe die Kamera einem Piloten aus einer dunklen Kammer durch einen Gang auf ein Flugfeld zum Start einer solchen Maschine folgt.

Abrupt bricht die Szene mit dem Insert des Filmtitels ab, setzt mit einer Fahrt des Piloten durch die argentinische Pampa quasi neu ein. Dazwischen liegt die Desertion Koblics, der nun im Kaff Colonia Elena bei einem Freund mit einem Job als Pilot von Sprühflugzeugen untertauchen will. Doch bald beginnt der Polizeichef Nachforschungen über den Fremden anzustellen und zudem ruft eine Affäre Koblics mit der jungen Nancy deren Lebenspartner auf den Plan.

Borenszstein gelang hier ein sorgfältig aufgebauter Thriller, der auch von der dichten Atmosphäre des Provinzkaffs und dem Gespür für Locations wie dem Hangar und dem Flugfeld oder einer Tankstelle lebt. Langsam entwickelt der Argentinier die Handlung, lässt immer wieder abrupt traumatische Erinnerungsfetzen an die Todesflüge auf Koblic hereinbrechen, bis er im Finale Dynamik und Action mit einem klassischen Genre-Showdown deutlich forciert.

Über die Reminiszenz an die Militärdiktatur hinaus erzählt der Film zeitlos und universell von einer Gewissensentscheidung, die hier einer treffen muss, prangert in der Affäre mit Nancy aber auch Machismo und die Gewalt der Männer gegenüber Frauen an.

Während Koblic aus dem Räderwerk der Diktatur aussteigt, scheint der Protagonist von Jonathan Cenzual Burleys "El Pastor – The Shepherd" schon immer ein Leben außerhalb der Gesellschaft geführt zu haben. Eindrücklich beschwört Burley in der Auftaktszene das einfache Leben des Schäfers Anselmo in seiner Hütte und mit seiner Herde.

So bestechend der Film aber in dieser quasidokumentarischen Schilderung auch ist, bei der freilich das einfache Leben durch musikalische Untermalung glorifiziert wird, so sehr kommt doch Sand ins Getriebe des Films, wenn eine Baufirma Anselmo den Grund abkaufen will und die verkaufswilligen Nachbarn zunehmend Druck auf den Schäfer ausüben.

Zu einfach gestrickt sind hier die Figuren, als dass die Diskussionen zwischen Baufirma, Nachbarn und Anselmo Glaubwürdigkeit gewinnen können. Statt Charaktere sind sie nur Stellvertreter für bestimmte gesellschaftliche Positionen. Papieren wirken so auch die Dialoge, nicht aus der Handlung entwickelt sondern geschrieben, um Kritik an der Gier nach Geld und Luxus zu üben und das einfache, aber autonome Leben zu propagieren.

Wie Borenszstein entwickelt auch Burley seinen Film zunehmend stärker in Richtung Thriller, doch mehr kunstgewerblich-bemüht als überzeugend und spannungssteigernd wirkt hier eine große Parallelmontage, die in einen Showdown mündet.

Rundum überzeugen konnte dagegen Ciaran Creaghs Spielfilmdebüt "In View". Sehr konzentriert folgt Creagh der Polizistin Ruth durch ihren Alltag. Vor sechs Jahren hat sie am gleichen Tag ihr Baby und ihren Mann verloren. Nie ist sie über diesen Verlust hinweggekommen, sucht Trost im Alkohol, in der Kirche oder auch bei den Anonymen Alkoholikern. Alle meinen es gut mit ihr, wollen ihr helfen, doch wie in einem Tunnel oder von Mauern umgeben fühlt sich die von Caoilfhionn Dunne herausragend gespielte Protagonistin.

Kein Lächeln kommt über das gleichsam versteinerte Gesicht der dünnen Frau, die in jeder Szene, ja fast in jeder Einstellung präsent ist. Man spürt, wie sie kämpft, wie sie aus diesem inneren Gefängnis flüchten will, wenn sie joggen geht oder eine zunächst barsch abgewiesene Antragstellerin für einen Pass dann doch bedient. Doch immer wieder zieht es sie hinunter, wird sie aggressiv oder verkriecht sich im wahrsten Sinne des Wortes in ihrem Haus.

Beklemmend ist dieser Film durch seine Fokussierung auf die Protagonistin, deren lebensmüde Stimmung, durch die in dunkle Farben getauchten Bilder, in denen es kein Rot oder Gelb zu geben scheint, und die frostig-karge Herbst- und Winterlandschaft nach außen gekehrt wird.

Lange einprägen werden sich durch die stille, aber dichte Erzählweise einzelne Szenen, wie die in der Ruth ihren Namen auf den Grabstein schreibt und sich auf die Grabplatte legt oder die, in der sie sich bei einem Bestatter in einen Sarg legt, sich als Lebende in die Position der Toten versetzt. Kein leichtes Ende bietet Creagh dem Zuschauer, sondern lässt den Film mit einer tragischen, gleichzeitig aber durch die bewusste Entscheidung gelöste Handlung enden. – Definitiv kein Eröffnungsfilm, aber ein Anwärter auf den Hauptpreis des Festivals.