65. Berlinale: Starke Frauenfiguren und furioses Experiment

Sowohl der Guatemalteke Jayro Bustamente in "Ixcanul" als auch Benoit Jacquot in seiner Neuverfilmung von "Le journal d´une femme de chambre" erzählen von Frauen, die sich aus Abhängigkeiten zu befreien versuchen. Sebastian Schipper dagegen nimmt den Zuschauer in "Victoria" in einer filmischen Tour de Force mit auf einen Trip durch eine Berliner Nacht.

Mit "Ixcanul" läuft erstmals ein Film aus Guatemala im Wettbewerb der Berlinale – und Jayro Bustamentes Langfilmdebüt hinterließ auch gleich einen starken Eindruck. Im Mittelpunkt steht die der indigenen Volksgruppe der Kakchiquel-Maya angehörende 17-jährige Maria, die mit ihren Eltern auf einer Kaffeeplantage am Fuße eines Vulkans lebt und mit dem Vorarbeiter verheiratet werden soll. Doch Maria träumt vielmehr von einem Ausbruch aus dieser engen Welt und ihren archaischen Ritualen und will mit dem jungen Kaffeepflücker Pepe in die USA emigrieren.

Bestechend verbindet Bustamente die fiktive Geschichte Marias und ihrer Eltern mit einer quasidokumentarischen Schilderung des alltäglichen Lebens und der religiösen Bräuche, bei denen Christliches und Naturreligiöses vermischt wird. In langen Einstellungen vermittelt er ein eindrückliches Bild von diesem Leben fernab nicht nur der westlichen Zivilisation, sondern auch voll fremdartiger Rituale.

Auf alles Metaphorische und Magische, das beispielsweise in den Filmen der Peruanerin Claudia Llosa eine große Rolle spielt, verzichtet der Guatemalteke dabei aber und bleibt nüchterner Beobachter. Zentrale Basis für seinen Film ist diese geduldige und genaue Schilderung aber, aus ihr heraus entwickelt Bustamente seine Geschichte, in der er nicht nur eindringlich und bewegend die Sehnsüchte Marias nach einem befreiten Leben jenseits des im Hintergrund dominierenden, aber nie zur Gänze sichtbaren Vulkans nachvollziehbar macht, sondern auch die Abhängigkeit vom und Ausbeutung durch den Vorarbeiter aufdeckt, der als einziger Spanisch spricht und so Gespräche mit Behörden oder in einem Krankenhaus steuern kann.

So ist "Ixcanul" nach "Taxi" und "45 Years" ein weiterer dieser kleinen, aber feinen Filme, die nicht mit großen Stars und Production-Values aufwarten, sondern durch eine fein ausgearbeitete und in einem genau gezeichneten Umfeld verankerte Geschichte Kraft und Leben entwickeln.

Auch Benoit Jacquot erzählt in seiner Verfilmung von Octave Mirbeaus "Journal d´une femme de chambre" - der nach Jean Renoir (1946) und Luis Bunuel (1964) dritten Verfilmung dieses Romans – von Abhängigkeit. In der wie der Roman, aber im Gegensatz zu Bunuels 1928 angesiedelter Version um 1900 spielenden Verfilmung folgt Jacquot der von Lea Seydoux großartig gespielten selbstbewussten Zofe Celestine hautnah und spannt den Bogen von einem Jobantritt in der Normandie bis zur Befreiung aus dieser Abhängigkeit durch eine Heirat, mit der sie sich freilich wieder in eine andere Abhängigkeit begibt.

Der Film wird – wie bei französischen Produktionen nicht anders zu erwarten – von einem exzellenten Cast getragen, besticht durch Production Values und gediegene Inszenierung sowie den bissigen Blick auf eine moralisch verrottete bürgerliche Gesellschaft, in der auch die Unterschicht alle zur Verfügung stehenden Mitteln nutzt, um sich Vorteile zu verschaffen oder sich aus der Abhängigkeit zu befreien. Mit dem Antisemitismus des Kutschers Joseph findet sich durchaus auch ein aktueller Aspekt, doch insgesamt lässt diese Neuverfilmung doch weder Dringlichkeit noch die Motivation des Regisseurs erkennen.

Mitreißende Intensität entwickelt dagegen Sebastian Schipper in "Victoria" durch seine ziemlich einzigartige Inszenierungsmethode. In einer einzigen Nacht zwischen halb fünf Uhr und sieben Uhr morgens hat er seinen 140-minütigen Film in Echtzeit und in einer Einstellung gedreht.

Hautnah an den Figuren und mittendrin im Geschehen ist man so, wenn die junge Spanierin Victoria beim Verlassen einer Disco auf vier Typen trifft, mit ihnen ein Gespräch beginnt und durch die Straßen zieht. Was als ausgelassenes nächtliches Treiben beginnt, wandelt sich aber schließlich in bitteren Ernst. Denn als das Quartett Maria bittet, für sie einen Wagen zu lenken, ist sie bald in einen Banküberfall verwickelt.

So sehr man freilich auch diese filmische Tour de Force bewundern muss, so lebensecht und intensiv die Schauspieler agieren, deren Figuren ein Spektrum unterschiedlichster Gefühle von Ausgelassenheit bis extreme Anspannung, von leidenschaftlicher Liebe bis tiefster Verzweilung durchlaufen, so sehr lassen doch haarsträubende Unglaubwürdigkeiten im Verhalten der Protagonisten den Zuschauer bei diesem atmosphärisch ungemein dichten Filmexperiment den Kopf schütteln und sich dem Sog, den die Erzählweise entwickelt, entziehen.