65. Berlinale: Endspurt im Bärenrennen

Vielfältig und stark präsentierte sich der Wettbewerb um den Goldenen Bären bislang, klarer Favorit lässt sich kurz vor Schluss aber noch keiner ausmachen. Visuell brillant, aber auch sehr sperrig versucht Alexej German jr. in "Under Electric Clouds" ein Bild der Stimmung im heutigen Russland zu vermitteln, mit schwarzem Humor nähert sich Malgorzata Szumowska in "Body" den Themen Verlust und Trauer und Peter Greenaway entfesselt in "Eisenstein in Guanajuato" den vom Briten gewohnten Bildersturm.

Gab es in den vergangenen Jahren mit Asghar Farhadis "Nader and Simin – A Separation" oder Richard Linklaters "Boyhood", der dann allerdings doch nicht gewann, bei der Berlinale immer wieder ganz klare Favoriten, die von der Spree aus einen Triumphzug um die Welt starteten, so präsentiert sich der Wettbewerb bislang zwar stark, lässt aber nach 17 von 19 Filmen ein herausragendes Werk noch vermissen.

So mögen die großartigen Plansequenzen von "Under Electric Clouds" von Alexej German jr. zwar ebenso faszinieren wie das winterlich kalte und öde Flussufer mit in den Himmel ragenden Autobahnpfeilern, einer ins Nirgendwo zeigenden Hand einer Lenin-Statue und einem halbfertigen Hochhaus, doch die 130 Minuten dieses Films ziehen sich doch endlos dahin.

Wie das desolate Setting und die frostige Atmosphäre Spiegelbild des heutigen Russland sind, in dem sich die Träume, die mit dem Sturz der Sowjetunion aufkamen, nicht erfüllten, so evozieren auch die Monologe eines Architekten, die erfolglose Suche eines kirgisischen Arbeiters nach seinen Kollegen oder eine Gruppe partysüchtiger junger Erwachsener das Bild eines orientierungs- und perspektivelosen Landes.

Weil German aber in sieben Kapiteln mehr fragmentarische Szenen aneinanderreiht, statt wirklich eine schlüssige Handlung zu entwickeln, fühlt sich der Zuschauer in diesem sichtlich vom Werk Andrej Tarkovskis, speziell von "Stalker", inspirierten Film bald genauso verloren und orientierungslos wie die Figuren.

Mehr überzeugen konnte da schon Malgorzata Szumovskas ungleich kleiner gehaltener "Body". Wie der Titel verspricht spielt die Polin darin auf mehreren Ebenen mit schwarzem Humor mit dem Thema "Körper", um der Frage nach Umgang mit Verlust und Trauer nachzugehen.

Im Zentrum steht die schwierige Beziehung eines Untersuchungsrichters, der immer wieder Schauplätze von Morden und Selbstmorden sichern muss - also mit toten Körpern zu tun hat -, zu seiner Tochter. Während er seit dem Tod der Mutter trinkt, fette Nahrung in sich hineinstopft, leidet die Tochter an Magersucht.

Als dritte Person kommt mit der Einlieferung der Tochter in ein Krankenhaus eine Therapeutin ins Spiel, die seit dem Tod ihres Kindes mit spiritistischen Sitzungen die Toten herbeirufen will. Weil der Untersuchungsrichter nicht weiter weiß, bittet er – obwohl er nicht an Spiritismus glaubt – sie schließlich doch um Hilfe.

In verwaschenen Farben, kühler und verregneter Herbststimmung und ärmlichen und dunklen Wohnungen vermittelt auch dieser Film eindringlich die Beklemmung, besticht aber durch konsequente Entwicklung der Handlung und eigenwillige und vielfältige Auseinandersetzung mit dem Thema Körper und der Frage, wie die Trauer über einen Verlust überwunden werden kann.

Einen wahren Bildersturm entfesselt der Brite Peter Greenaway, der sich in "Eisenstein in Guanajuato" mit dem Mexikoaufenthalt des russischen Meisterregisseurs Sergej Eisenstein im Jahr 1931 beschäftigt.

Mit Splitscreen und Ausschnitten aus Eisensteins früheren Meisterwerken "Streik", "Panzerkreuzer Potemkin" und "Oktober" bietet der 72-jährige Brite Einblick ins Schaffen des Regisseurs, spielt am Beginn mit einem Wechsel von Schwarzweiß und Farbe und will zeigen, wie in Analogie zu "10 Tage, die die Welt erschütterten" als Untertitel von "Oktober" zehn Tage in Mexiko Eisenstein erschütterten.

Ins Zentrum stellt Greenaway dabei die (homo)sexuelle Initiation des sowjetischen Regisseurs und spielt mit dem Gegensatz von Eros und Thanatos, der auch im von Eisenstein geplanten Mexiko-Film, der nur fragmentarisch als "Que viva Mexico" erhalten ist, eine zentrale Rolle spielen sollte. Er streift aber auch Eisensteins Konflikte mit dem das Projekt finanzierenden US-Autor Upton Sinclair und seine vielfältigen Kontakte zu amerikanischen Berühmtheiten, aber auch seine zunehmende Distanzierung von der Sowjetunion.

Schwer macht einem der Zugang zu diesem Film aber nicht nur die schrille Überzeichnung Eisensteins als tragischer Clown, dessen Verkörperung durch Elmer Bäck an überdrehte Roberto Benigni-Rollen erinnert, sondern auch Greenaways gewohnt kalter Blick: Man staunt zwar über die Bildkompositionen und den visuellen Einfallsreichtum, bleibt aber immer nur distanzierter und emotional nicht involvierter Zuschauer.