64. Filmfestival Mannheim-Heidelberg: Aktuelle Geschichten, klassische Erzählweisen

Rückbesinnung auf klassische Erzählweisen kennzeichnet viele Filme im Wettbewerb des 64. Internationalen Filmfestivals Mannheim-Heidelberg (9.10. – 24.10. 2015). Klug wird dabei auch immer wieder mit Genreelementen gearbeitet. Als schwarze Perle ragt bislang aus den Wettbewerbsfilmen Jeppe Røndes düsteres Jugend-Selbstmord-Drama "Bridgend" heraus.

Tiefe Nacht herrscht noch, als der Signalton des Weckers ertönt und Erdal seinen etwa achtjährigen Sohn Merdan weckt. Mit ihrem Handkarren brechen sie in der Dunkelheit zum Gemüsemarkt von Istanbul auf, organisieren ein paar Kisten Salate und Obst, das sie außerhalb der Markthalle verkaufen.

So müssen sie keine Steuern zahlen, ziehen sich aber auch den Zorn der anderen Markthändler auf sich und müssen auch fürchten, von der Polizei vertrieben zu werden. Erschwert wird ihre Arbeit, als ihr Handkarren gestohlen wird, doch wenigstens gibt es die Solidarität unter diesen illegalen Verkäufern und ihre Gespräche am wärmenden Feuer.

Fast in Echtzeit erzählt Murat Eroğlu in "Şafakla Dönenler - Before Sunrise", beschränkt sich auf die Schilderung dieses Arbeitsalltags, der das Überleben der Familie sichern muss, und vermischt dabei untrennbar Inszeniertes und dokumentarisch eingefangenen Hintergrund. Nicht nur im Blick auf die Welt ist das Vorbild des italienischen Neorealismus unübersehbar, sondern mehr noch in der Vater-Sohn-Geschichte und dem Diebstahl des Handkarrens.

Unweigerlich werden hier Erinnerungen an Vittorio de Sicas "Fahrraddiebe" wach, was "Before Sunrise" freilich zum Problem wird, denn einem Vergleich mit diesem Klassiker der Filmgeschichte kann dieses großartig in dunklen Nachtfarben fotografierte Langfilmdebüt verständlicherweise nicht standhalten. Zu fern bleiben dem Zuschauer letztlich die Protagonisten, als dass dieser still beobachtende und Musik nur pointiert an zentralen Stellen einsetzende Film wirklich emotional packen könnte.

Wesentlich stärker gelingt dies dem Niederländer Remy van Heugten, der in seinem kraftvollen "Gluckauf – Son of Mine" ebenfalls eine Vater-Sohn-Geschichte erzählt, sich dabei aber am Genre des Gangsterfilms orientiert. Packend ist schon der Auftakt, wenn Vater Lei mit drei Schüssen in die Luft seinen Anspruch auf den etwa fünfjährigen Sohn Jeffrey dokumentiert und dieser sofort die Mutter verlässt und dem Vater folgt.

Mit einem Schnitt werden gut 10 Jahre übersprungen. Auf der Jagd auf Fasane und Kaninchen scheinen Vater und Sohn fürs Leben zu trainieren, in dem sie es in der seit der Schließung der Kohleminen strukturschwachen Region im Süden der niederländischen Provinz Limburg nicht weit gebracht haben.

Als Jeffrey, der als kleiner Drogendealer Geld verdient, erfährt, dass sein Vater beim lokalen Gangsterboss schwer verschuldet ist, übernimmt er die väterlichen Schulden und verrichtet dafür für den Gangster brutale Jobs. Vorprogrammiert ist damit ein blutiger Konflikt zwischen Vater und Sohn, obwohl doch der Sohn das Einzige ist, an dem der Vater wirklich hängt und das ihm geblieben ist.

Atmosphärisch dicht eingebettet in das realistisch eingefangene, schäbige und winterlich kalte Milieu, stark in der Figurenzeichnung und großartig gespielt entwickelt van Heugten in dichter und stringenter Inszenierung ein packendes Drama, mit dem es ihm ähnlich wie Jacques Audiard in "Der wilde Schlag meines Herzens" oder Michaël R. Roskam in "Bullhead" gelingt Muster amerikanischer Gangsterfilme auf europäische Verhältnisse zu übertragen.

Mit den Mitteln des Thrillers arbeitet dagegen der Peruaner Salvador del Solar, der in "Magallanes" an ein dunkles und nur allzu gerne verdrängtes Kapitel der Geschichte seines Landes erinnert. Im Mittelpunkt steht der Mittfünfziger Magallanes, der einerseits für einen an den Rollstuhl gefesselten ehemaligen Colonel als Fahrer arbeitet, sich andererseits nebenbei illegal etwas als Taxifahrer dazu verdient.

Bei diesem Zweitjob begegnet er Celina (Magaly Solier) wieder, die ihn an seine Zeit als Folterer während des 25 Jahre zurück liegenden Kampfes des Militärs gegen den maoistischen "Leuchtenden Pfad" erinnert.

Sieht Magallanes zunächst nun eine Chance den als Anwalt angesehenen Sohn des Colonels mit einem Foto aus dieser Zeit zu erpressen, so richtet sich sein Bemühen bald darauf an Celina das vergangene Verbrechen irgendwie wieder gut zu machen. Doch mit der Erinnerung bricht bei Celina nur das lange verdrängte Trauma quälend wieder hervor, Wiedergutmachung aber kann es für das Geschehene nicht geben.

Getragen von starken Darstellern und wendungsreichem Drehbuch sowie mit genauem Blick für die sozialen Gegensätze im heutigen Peru gelang del Solar ein spannender Thriller, der allerdings beim geschichtlichen Hintergrund für Nicht-Peruaner zu diffus und zu vage bleibt, man mehr erahnen muss als wirklich erfährt, denn nie wird explizit der "Leuchtende Pfad" erwähnt, nur mit einem Satz werden indirekt die Massaker angesprochen, die damals vom Militär unter den indigenen Quechua verübt wurden.

Überstrahlt werden diese starken Filme bislang aber von "Bridgend" des Dänen Jeppe Rønde. Inspiriert von einer Selbstmordserie im walisischen Bridgend, der zwischen 2007 und 2012 79 Jugendliche zum Opfer fielen, inszenierte der Dokumentarfilmregisseur ("The Swenkas") on Location ein visuell und akustisch brillantes düsteres Drama.

Schon die den Film eröffnende Kamerafahrt auf einem verwachsenen Eisenbahngleis in Richtung Wald und die anschließende Entdeckung eines erhängten Jugendlichen evoziert eine beklemmende Stimmung, die über dem ganzen Film lastet.

Mit den Augen des Teenagers Sara (die aus "Games of Thrones" bekannte Hannah Murray), die mit ihrem Vater, der als Polizist im Fall der Selbstmorde ermitteln soll, von Bristol nach Bridgend kommt, blickt man auf diese Region und ihre Bewohner. Versteht sich Sara zunächst gut mit ihrem Vater, entfremdet sie sich ihm immer mehr, je mehr sie sich den Jugendlichen der Kleinstadt anschließt, die im Internet-Chat die Selbstmorde kommentieren und im Wald in archaischen Ritualen ihre Trauer ausdrücken.

Bestechend evoziert Rønde mit seinem Kameramann Magnus Nordenhof Jønck mit wolkenverhangenen und in dunkle Farben getauchten Cinemascope-Bildern und einem starken Soundtrack des französischen Elektromusikers Mondkopf eine dichte Atmosphäre, bis der Film in einer irrlichtern-alptraumhaften Szene endet.

Auflehnung gegen die Eltern, Protest gegen die Gesellschaft und Perspektivelosikgkeit schwingen hier ebenso als mögliche Motive für die ungeheuerlichen Taten mit wie Gruppenzwang und gegenseitige Anstachelung zur Destruktion, doch jeder eindeutigen Erklärung verweigert sich "Bridgend", überlässt es dem Zuschauer, sich über die wahren Motive Gedanken zu machen. – Gerade diese Offenheit ist es freilich, die diese schwarze Perle weit über das Filmende hinaus nachwirken lässt.