63. Berlinale: Osteuropäischer Sozialrealismus, amerikanische Kinogeschichten

Neben der fast schon allgegenwärtigen starken Frauen prägte die 63. Berlinale vor allem der Gegensatz zwischen dem realistischen Blick auf osteuropäische Realitäten auf der einen Seite und amerikanischen Kinogeschichten auf der anderen.

Ums nackte Überleben seiner Frau kämpft der Roma Nazif in Danis Tanovics "An Episode in the Life of an Iron Picker". Weil keine Krankenversicherung vorliegt, will das Krankenhaus sie nur operieren, wenn zuerst die Rechnung bezahlt wird. Doch die nötigen 500 Euro hat Nazif nicht. Seine Fahrt zum Krankenhaus führt vorbei an qualmenden Fabriksschloten und einem Atomkraftwerk, in seinem Dorf aber wird der Strom abgeschaltet, weil die Rechnung dafür nicht bezahlt wurde. Praktisch in Echtzeit zeigt Tanovic, wie Nazif auf einer Müllhalde Metall sammelt, um daraus Geld zu machen. Als sein alter Wagen nicht mehr anspringt, wird dieser mit Beilen und bloßen Händen in Einzelteile zerlegt, die man verkaufen kann. Keine Kinogeschichte erzählt Tanovic, sondern stellt ein reales Ereignis mit den Betroffenen nach.

Nur träumen können diese Roma vom sonnigen Griechenland, in dem Richard Linklaters "Before Midnight" spielt. Im Überlebenskampf und in der tristen sozialen Situation ist der Gedanke fern, sich wie Julie Delpy und Ethan Hawke bei Linklater locker, luftig, leicht über die Liebe und das Leben zu unterhalten. Wieder einmal waren es neben Sebatián Lelios "Gloria" vor allem die Amerikaner, die mit ihren Kinogeschichten einen Wettbewerb auflockerten, in dem immer wieder harte Themen und Schicksale im Mittelpunkt standen.

Da mag Steven Soderberghs Thriller "Side Effects" auch als Abrechnung mit der Pharma-Industrie beginnen, so schlägt der Amerikaner doch bald eine andere Richtung ein, überrascht und unterhält mit stets neuen Wendungen, doch der gesellschaftskritische Akzent verabschiedet sich damit aus dem Film.

Nur schräge und abgefuckte Kulisse ist Bukarest in Fredrik Bonds durchgeknalltem "The Necessary Death of Charlie Countryman", in dem ein junger Amerikaner nach dem Tod seiner Mutter in die rumänische Hauptstadt reist und sich dort bald von zwei Gangstern verfolgt sieht.

So fern diese Filme dem Leben sind, so nah dran ist das mit dem Goldenen Bären ausgezeichnete Drama "Child´s Pose" des Rumänen Calin Peter Netzer. Während im "Countryman" ein Musikteppich über Längen und Löcher hinwegtäuschen soll, verzichtet Netzer völlig auf Filmmusik und lässt die Kamera die Ereignisse mit dokumentarischem Gestus protokollieren. Dem Leben meint man hier zuzuschauen, wenn eine Innenarchitektin alles in Bewegung setzt, um ihren Sohn, der bei einem Unfall mit überhöhter Geschwindigkeit ein 14-jähriges Kind zu Tode gefahren hat, vor einer Gefängnisstrafe zu bewahren.

Nicht ohne Klischees schildert Netzer das Leben der Upper-Class sowie den Mix aus Beziehungen und Bestechung, den man ins Spiel springt. Am stärksten "Child´s Pose" im Beiläufigen, beispielsweise wenn ein Polizist plötzlich selbst um eine Gefälligkeit bittet. Von dieser Gesellschaftsanalyse entfernt sich der Film aber zunehmend und entwickelt sich zu einem Drama über eine verkorkste Mutter-Sohn-Beziehung. Denn mag die Mutter auch dafür kämpfen, dass der Sohn nicht ins Gefängnis kommt, so gesteht sie ihm selbst doch gerade keine Freiheit zu, versucht jeden seiner Schritte zu kontrollieren und ihn zu dirigieren. Der Sohn freilich beginnt sich dieser Einengung durch die egozentrische und dominante Mutter zu widersetzen.

Einen anregenden Mix bot so die 63. Berlinale, doch wie schon in den letzten Jahren fehlten auch heuer die echten Highlights, die herausragenden Meisterwerke. Problematisch scheint auch, dass sowohl der Eröffnungsfilm als auch alle amerikanischen Produktionen keine Uraufführungen waren, sondern schon seit Wochen in ihren Ursprungsländern laufen, Rezensionen schon im Internet standen.

Stars und Glamour mögen diese Filme nach Berlin bringen, aber der Reiz des Neuen, die Spannung, was man nun auf der Leinwand sehen wird, waren gedämpft. - So hat sich mit der 63. Auflage der qualitative Abstand zwischen der Berlinale und den Festivals von Cannes und Venedig zwar wohl kaum vergrößert, aber auch nicht verringert, sondern wurde zementiert. Immer mehr und zunehmend endgültig muss man sich damit an der Spree wohl auch vom Gedanken verabschieden, dass man in einer Liga mit den Festivals an der Côte d´Azur und am Lido spielt.