63. Berlinale: Ein Festival der starken Frauen

Frauen stehen im Zentrum auffallend vieler Wettbewerbsfilme der 63. Berlinale. Zwei Beispiele dafür sind Guillaume Niclouxs Neuverfilmung von Denis Diderots Roman "La Religieuse" und "Gloria", in dem der Chilene Sebastián Lelio eine lebenshungrige Endfünfzigerin, die sich auch durch Enttäuschungen nicht entmutigen lässt, porträtiert.

Nina Hoss muss sich in Thomas Arslans "Gold" auf einem Treck durch Nordkanada behaupten, ein schwergewichtiger Teenager ist die Hauptfigur von Ulrich Seidls "Paradies: Hoffnung", Calin Peter Netzer fokussiert in "Child"s Pose" auf einer dominanten Mutter, die alles in Bewegung setzt, um ihren Sohn, der einen tödlichen Unfall verursacht hat, vor dem Gefängnis zu bewahren, im Zentrum von Denis Côtés surrealem "Vic + Flo ont vu un ours" stehen zwei aus dem Gefängnis entlassene Frauen und Pia Marais zeigt in "Layla Fourie", wie die alleinerziehende Titelfigur sich in ein Netz von Lügen und Täuschungen verstrickt. – Frauen dominieren unübersehbar bislang auffallend viele Wettbewerbsfilme, Männer spielen oft nur Nebenrollen.

Eine Frau steht auch im Zentrum von Denis Diderots 1792 erschienenem Roman "La Religieuse". Der französische Schriftsteller und Aufklärer erzählt darin die Leidensgeschichte der jungen Suzanne, die von ihren Eltern gegen ihren Willen in ein Kloster gesteckt wird. Ist Suzannes Leben dort unter der gütigen ersten Oberin noch erträglich, folgt dieser nach ihrem ungeklärten Tod eine Sadistin, die die junge Nonne schikaniert und grausam foltert. Nur auf den ersten Blick eine Verbesserung bringt eine Verlegung in ein anderes Kloster, denn die dortige Oberin will sich Suzanne körperlich nähern.

Die Kirchenkritik ist massiv, prompt rief Jacques Rivettes Verfilmung des Romans im Jahre 1966 einen Skandal hervor. Die Zeiten haben sich seither freilich geändert, sodass an der Neuverfilmung von Guillaume Nicloux kaum jemand Anstoß nehmen wird. Ganz klassisch, ohne Modernismen und Mätzchen erzählt der Franzose sehr konzentriert die Geschichte Suzannes. Beklemmend vermittelt er in den sorgfältig kadrierten und ausgeleuchteten, aber immer engen und geschlossenen Bildern des Klosterlebens die Zwänge, denen das Individuum hier unterworfen ist. Spürbar wird förmlich, was Freiheit bedeutet, wenn Nicloux nach Suzannes Flucht stille Landschaftstotalen aneinanderreiht.

Getragen wird diese Literaturverfilmung aber nicht nur von der strengen filmischen Form, sondern auch von einem starken Ensemble. Eindringlich verkörpert die junge Pauline Etienne mit zurückhaltendem Spiel Suzanne, Martina Gedeck macht aus der Nebenrolle von Suzannes Mutter eine Hauptrolle und weit hinaus lehnt sich Isabelle Huppert bei der Darstellung der lesbischen Oberin. An der Grenze zur Lächerlichkeit ist eine Szene, in der sie zu Suzanne ins Bett steigt, aber Huppert gelingt es dabei auch erschütternd Verzweiflung und Sehnsucht nach körperlicher Nähe zu vermitteln.

Die Kunst Niclouxs besteht aber auch darin, dass er gerade durch die Strenge der Inszenierung und den Verzicht auf Aktualisierung im historischen Gewand und am Einzelbeispiel zeitlos und universell Unterdrückungsmechanismen und Zwangssysteme anprangert und ein Plädoyer für die individuelle Freiheit führt.

Diese individuelle Freiheit genießt die Titelfigur von Sebastián Lelios "Gloria", doch die seit über zehn Jahren geschiedene Endfünzigerin hat mit dem Alter und der Einsamkeit zu kämpfen. Groß ist ihr Verlangen nach einem erfüllten Leben, viel Wert legt sie auf Körperpflege, besucht Fitness-, Yoga- und Lachkurse und am Abend Single-Partys. Flirts und kurze Affären hat sie viele, doch als sie den etwa gleich alten Rodolfo kennenlernt, glaubt sie, dass dies der Beginn einer längeren Beziehung sein könnte. Doch Rodolfo kann oder will sich nicht von seiner Ex-Frau und seinen erwachsenen Töchtern lösen. Mehrfach lässt er Gloria deshalb sitzen, kehrt dann aber reumütig zu ihr zurück, bis sie einen Schlussstrich zieht. Effektvoll rechnet sie mit ihm ab und stürzt sich trotz wiederholter Enttäuschungen zu Umberto Tozzis "Gloria" wieder hinein ins Leben.

Getragen wird dieses tragikomische Porträt einer Frau, die sich nicht unterkriegen lässt, immer noch Liebe und Spaß sucht, vor allem von der großartigen Paulina García, die sich in dieser Rolle als heiße Favoritin für den Darstellerpreis präsentiert. In praktisch jeder Einstellungen ist sie präsent, hautnah folgt ihr Lelio durch den Alltag, zeigt ihre Lebensgier ebenso wie ihre Enttäuschungen, führt sie an den Rand der Resignation, lässt sie dann mit einem Joint wieder aufblühen, neuen Mut fassen und sich ins Leben zurückkämpfen. – Ein Film mit Potential zum Crowd-Pleaser.