44. Solothurner Filmtage: Blick in die Ferne - Ein Resümee

26. Januar 2009
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Wenige Bilder der Schweiz sah man bei den 44. Solothurner Filmtagen. Mehrheitlich in die Ferne, in die Kaukasusregion, nach Lateinamerika oder auf das soziale Engagement von Schweizern im Ausland blickten die Dokumentarfilmer und nichts Schweizerisches hat auch Ursula Meiers hintersinnige Komödie "Home" an sich.

In den 70er Jahre fand der Neue Schweizer Film durch kritische Erkundungen der Schweizer Geschichte und Gesellschaft internationale Beachtung. Diese Zeiten sind längst vorüber, nicht mehr nach Innen sondern nach Außen scheint sich der Blick der Filmemacher zu richten – wobei das Resümee bei Filmtagen, an denen inklusive der Kurzfilme 288 Produktionen gezeigt werden, freilich immer von der Filmauswahl des Besuchers abhängt.

Dass im Kino in den letzten Jahren oder sogar Jahrzehnten eine Internationalisierung stattgefunden hat, ist unübersehbar. Und ein Film wie "März" von Händl Klaus oder Constantin Wulffs "In die Welt, die in Solothurn als Schweizer Filme laufen, werden vermutlich in gut einem Monat auch bei der österreichischen Filmschau in Graz als heimische Produktion gezeigt werden.

Auch die inhaltliche Ausrichtung nicht nur des Schweizer Films hat sich aber in den letzten Jahrzehnten verändert, regionale Erkundungen haben abgenommen, man blickt vermehrt in die Ferne. Ausnahmen sind da schon eher "La Forteresse", in dem Fernand Melgar kommentarlos und wertungsfrei einen Einblick ins Alltagsleben im Schweizer Durchgangslager von Vallorbe bietet, indem er Beamte und Asylsuchende in gleichem Maße zu Wort kommen lässt, und Severin Kuhns "Niemand nicht weiß". Im Gegensatz zu Melgar bezieht der 25-jährige Jungregisseur in seinem in Solothurn ausgezeichneten 15minütigen Dokumentarfilm allerdings eindeutig Position: In ruhigem Erzählfluss bettet er in Bilder der abweisenden und winterlich kalten Schweizer Berge Interviews mit zwei Iranern ein, die aus ihrer Heimat fliehen mussten, nun aber auch aus der Schweiz abgeschoben werden sollen. Die Schilderung des tristen Loses entwickelt sich dabei zu einer scharfen Kritik an der Schweizer Asylpolitik.

In die Ferne schweift dagegen Stefanie Rauer, die in "Al Norte" unaufgeregt und ohne Off-Kommentar Lateinamerikaner und ihre (versuchte) Migration in die USA schildert. Viel Neues erfährt man in diesem Dokumentarfilm nicht, doch die Nähe zu den Menschen und die eindrückliche Schilderung ihrer persönlichen Erfahrungen prägt sich dieser Film doch ins Gedächtnis ein. Wie sehr dieser Blick in die Ferne die 44. Solothurner Filmtage prägte, belegen Filme wie "Temoin indésirable", in dem Juan José Lozano einen kolumbianischen Journalisten porträtiert, der die Barbarei in seinem Land schonungslos anklagte, oder "Togo", in dem Pierre Morath und Nicholas Peart die Euphorie und die Enttäuschung im westafrikanischen Land angesichts der Teilnahme bei der Fußball-WM 2006 mit der Kamera einfangen und dubiose Machenschaften innerhalb des togolesischen Fußballverbands sichtbar machen.

Fortsetzen lässt sich diese Liste mit einer Dokumentation über die Versuche eines deutschen Dirigenten mit einem Orchester mit Musikern aus verschiedenen kaukasischen Republiken in den einzelnen Staaten der Krisen- und Konfliktregion Kaukasus Konzerte zu organisieren ("Grozny Dreaming") und einem Porträt der 2006 erschossenen russischen Journalistin Anna Politkovskaja ("Letter to Anna"). Abgesehen von der Regisseurin jeder Schweizbezug – das ist freilich nur eine Feststellung und keine Kritik - fehlt auch dem beeindruckenden, zurecht mit dem neugeschaffenen und mit 60.000 Schweizer Franken dotierten Prix de Soleure ausgezeichneten "No More Smoke Signals", in dem Fanny Bräuning einen vielschichtigen Einblick in Leben und Befindlichkeit der Lakota-Indianer in ihrem Reservat in Süd-Dakota bietet.

Auch die beiden Porträtfilme "The Prison and the Priest" und "Citadelle humanitaire" erzählen nicht von der Schweiz, sondern fokussieren nur auf Schweizern, die durch ihr humanitäres Engagement im Ausland Beachtung und Wertschätzung verdienen. Armin Menzi und Filmtage-Direktor Ivo Kummer zeichnen in ihrem 60-minütigen Dokumentarfilm "The Prison and the Priest" ein interessantes, wenn auch formal mit durch den Film leitendem Off-Kommentar ganz auf die TV-Ausstrahlung ausgerichtetes Portät des Schweizer Benediktinermönchs Peter Meienberg, der sich seit mehr als 40 Jahren in Nairobi für Häftlinge und Slumbesucher einsetzt, nicht nur die Messe mit ihnen feiert, sondern auch versucht ihre Lebensbedingungen zu verbessern.

Aufwändiger gemacht und komplexer ist dagegen der neue Dokumentarfilm von Frederic Gonseth. In "Citadelle humanitaire" porträtiert der Lausanner mit Interviews und hochinteressantem Archivmaterial André Rochat und zeichnet dessen Einsatz in den 60er Jahren im jemenitischen Bürgerkrieg nach. Ganz fokussiert auf das Thema und die private Biographie Rochats weitgehend aussparend bringt der Film nicht nur ein im Westen weitgehend unbekanntes oder vergessenes Kapitel der jüngeren Geschichte näher, sondern übt auch Kritik am IKRK, das immer wieder von nationalen Mächten abhängig ist und dadurch in seinem Handlungsspielraum eingeschränkt ist oder sich selbst einschränkt.

Da Solothurn eine Werkschau ist, nicht auf Premieren ausgelegt ist, sondern vielmehr einen Überblick über das bietet, was sich im Schweizer Filmschaffen im vergangenen Jahr getan hat, sind speziell die Spielfilme vielfach schon von anderen Festivals wie Locarno oder auch vom Kinoeinsatz her bekannt. Entdeckungen kann man hier vor allem noch bei den Westschweizer Produktionen machen, aus denen Ursula Meiers "Home" herausragte, der freilich schon letztes Jahr in Cannes uraufgeführt wurde und in der französischen Schweiz schon über 40000 Eintritte verbuchen kann.

Mit den oben angeführten Dokumentarfilmen verbindet diese skurrile Familiengeschichte, dass sie zwar räumlich auf einen kleinen Streifen am Rande einer Autobahn beschränkt ist, auf jede konkrete geographische Situierung aber bewusst verzichtet wird. Universell ist diese Komödie über eine am Rande dieser am Anfang noch stillstehenden Autobahn lebende fünfköpfige Familie. Bestens eingerichtet hat man sich in dieser kargen Landschaft, spielt auf der Fahrbahn Rollhockey, sonst sich daneben auf einer Liege im Bikini neben oder schaut gemeinsam von der im freien aufgestellten Couch aus fern.

So geht das schon 10 Jahre und nicht im Geringsten hätte man daran gedacht, dass die Autobahn noch einmal fertig gestellt wird. Doch eines Nachts fahren LKW auf und wenig später donnert die Blechlawine vorbei oder steht bei Ferienbeginn im Stau still. Die Familie freilich will sich davon das Leben weder vermiesen noch sich vertreiben lassen, setzt der allgemeinen Bewegung in diesem Anti-Roadmovie das Bleiben gegenüber, nimmt´s zuerst locker und bunkert sich dann mit Ziegeln und Isoliermatten ein.

Ganz fokussiert auf die fünf Familienmitgliedern und ihren Lebensbereich, und nicht nur von den Stars Isabelle Huppert und Olivier Gourmet, sondern auch von den drei Jugendlichen glänzend gespielt entwickelt sich eine hinreißend trockene, sich sukzessive steigernde skurrile Komödie, die die Familie feiert, die trotz der zunehmenden Einschränkungen und Bedrohungen durch gesellschaftliche und technische Veränderungen zusammenhält und sich nicht unterkriegen lässt.