400 Jahre japanische Stadtkultur

In keinem anderen Land hat sich die Verstädterung so rasch entwickelt wie in Japan. Nagoya ist dafür ein Paradebeispiel: Vor 400 Jahren als feudale Burg- und Residenzstadt gegründet, in der zehntausende Samurai lebten, liegt die viertgrößte Stadt Japans heute inmitten einer dicht besiedelten Industrieregion mit rund 8 Millionen Einwohnern, in der Konzerne wie Toyota oder Brother beheimatet sind. Der rasante Wandel japanischer Stadtkultur ist Thema einer Ausstellung, die außergewöhnliche wie kostbare Exponate nach Wien bringt. Kunstschätze werden ebenso zu sehen sein wie Objekte aus dem städtischen Alltag.

Nagoyas Geschichte begann 1610 mit dem Bau einer Burganlage durch die mächtige Tokugawa-Dynastie. Darauf folgte eine gigantische Übersiedlung: Rund 90.000 Menschen wurden – ebenso wie Tempel und Schreine – aus dem nahegelegenen Kiyosu in die innerhalb weniger Jahre erbaute Schachbrett-Stadt umgesiedelt. Bald entwickelte sich Nagoya zu einem blühenden Zentrum der Edo-Epoche und zu einem Umschlagplatz neuer populärer Kulturformen. Der Beginn der Meiji-Zeit um 1870 markiert Japans Weg in die Moderne. Bis dahin hatte sich das Land von der Welt weitgehend abgeschottet. Nun öffnete es sich, mit forcierter Industrialisierung, westlichem Kalender und Übernahme neuester Technologien. Der Auftritt Japans auf der Wiener Weltausstellung von 1873 stieß auf große Faszination, die Schönheit der kunstgewerblichen Produkte löste den Modetrend des "Japonismus" aus. Nagoya war 1873 prominent vertreten: Einer der riesigen, goldenen "Shachi" – Fabelwesen in Tiergestalt auf dem Burgdach und bis heute Wahrzeichen Nagoyas – wurde sogar nach Wien geschafft.

In rasantem Tempo wandelte sich Nagoya um 1900 zur modernen Metropole und Millionenstadt – mit Überseehafen, elektrischer Straßenbahn (eingeführt 1898, im gleichen Jahr wie in Wien), Kaufhäusern und westlich geprägter Unterhaltungskultur. Die Ausstellung zeigt u. a. Werbung aus den 1930er Jahren im Stil des Art Deco. Bis heute gilt Nagoya als "Mekka des Pachinko", eines äußerst populären Glücks- und Geschicklichkeitsspiels. Frühe Pachinko-Maschinen aus lokaler Produktion sind deshalb auch in der Ausstellung zu sehen.

Da Nagoya Zentrum der japanischen Rüstungsindustrie war, wurde die Stadt im Zweiten Weltkrieg durch US-Bombardements großflächig zerstört. Die nach 1945 neu aufgebaute Rasterstadt kam mit ihrem großzügigen Straßennetz den Bedürfnissen des Autoverkehrs entgegen. Heute präsentiert sich die Stadtlandschaft als scheinbar endlose Abfolge von Zentren und Peripherien und ist Teil einer der 30 größten Agglomerationen der Welt. In den letzten Jahren entstanden im Zuge einer "urban renaissance" auch spektakuläre Hochhäuser. Stadtplanerisch unverzichtbar ist die enge Kooperation zwischen Stadtregierung und privaten Investoren. Nagoya hat heute ein avanciertes öffentliches Verkehrssystem, hat aber nach wie vor den höchsten Anteil von Privat-PKWs in Japan. Jedoch wurden in jüngster Zeit auf Grund massiver Umweltprobleme Maßnahmen zur ökologischen Trendwende gesetzt. In Japan gilt Nagoya heute als "Musterstadt der Mülltrennung".

Schon in der Edo-Zeit war Nagoya durch die Dominanz der Samurai eine konsumorientierte Stadt, die auf bestimmte Branchen wie Schwertherstellung, Produktion von Miso und Holzverarbeitung spezialisiert war. Traditionelle Handwerkstechniken werden in der Ausstellung mit Produkten und Werkzeugen vorgestellt: Historische Kimonos in Schnürbatik-Technik, Holzschuhe oder Tabi-Socken. Gezeigt werden auch wertvolle Emailmalereien in Cloisonné-Technik, eine Spezialität Nagoyas im späten 19. Jahrhundert.

Drei Unternehmen aus der Region Nagoya stehen exemplarisch für den wirtschaftlichen Aufstieg Japans zum Export-Weltmeister. Alle drei Fallgeschichten zeigen, wie westliche Vorbilder zu genuinen Innovationen führten und dazu genutzt wurden, nach dem Inlandsmarkt auch den Weltmarkt zu erobern. Toyota fertigte zunächst Industrie-Webstühle, ehe 1937 das erste Auto in Serie ging (ein 1:5-Modell des legendären Toyota AA Sedan reist für die Ausstellung aus Nagoya nach Wien!). Mit Erfolgsmodellen wie dem Corolla begann der Welterfolg. Ein Oldtimer der Serie von 1970 ist während der Ausstellungsdauer im Foyer des Wien Museum Karlsplatz „geparkt“. Heute ist Toyota der größte Automobilhersteller der Welt und ein den Raum Nagoya dominierender Mischkonzern.

Das Unternehmen Brother (der Name wurde einst gewählt, weil Englisch in Japan in Mode war), heute weltweit eines der führenden Unternehmen im Bereich der Kommunikationstechnologie, begann mit Nähmaschinen und verdrängte bald den Import-Monopolisten Singer. Gezeigt wird ein Exemplar der ersten in Japan produzierten Nähmaschine aus den 1920er Jahren, die der Herstellung von Strohhüten diente. Mit Näh- und Schreibmaschinen ging Brother in den 1950er Jahren auf den Weltmarkt.

Das Keramik-Unternehmen Noritake reüssierte um 1900 mit dekorativen Vasen nach europäischem Vorbild und modernem Tafelgeschirr. Beides wurde in die USA exportiert, später trug Noritake dazu bei, dass auch Japaner weiße "dinner sets" verwendeten. In der Ausstellung gezeigt wird auch ein Service, das Frank Lloyd Wright für das Imperial Hotel in Tokio entworfen hat.

In der Ausstellung sind Fotoserien wichtiger japanischer Fotografen zu sehen: Shomei Tomatsu hielt mit der Kamera die unmittelbaren Nachkriegsjahre fest, Jiru Teranishis Bilder zeugen vom modernen Leben der 1960er Jahre. Von Keizi Kitajima ist eine Version seiner Serie "Portraits and Places" zu sehen, in der er anonyme japanische Stadtlandschaften zeigt.


Nagoya - Das Werden der japanischen Grossstadt
7. Februar bis 4. Mai 2008