Locarno 2008: Ein Filmfestival als Spiegelbild der Welt?

5. August 2008
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Die Europäer geben beim 61. Filmfestival von Locarno (6. – 16.8.) sowohl auf der Piazza Grande als auch im Wettbewerb den Ton an. Schwach vertreten sind dagegen die US-Amerikaner, die im Hauptwettbewerb ebenso wie bei den "Cinéastes du présent" komplett fehlen. Für sichere Höhepunkte werden die Retrospektive, die heuer dem Italiener Nanni Moretti gewidmet ist, die Verleihung des Ehrenleoparden an den Israeli Amos Gitai und des Excellence Award an Anjelica Huston sorgen.

Locarno 2008 ist zwar erst das dritte Jahr unter der Leitung von Frédéric Maire, aber auch schon wieder sein vorletztes als Festivaldirektor. Wie vor gut einem Monat bekannt wurde wird Maire nämlich am 1. November 2009 die Leitung der Cinémathèque suisse in Lausanne übernehmen. An seinem Kurs für das Festival am Lago Maggiore mit einer stärkeren Fokussierung auf dem Filmischen statt auf sozialpolitischen Schwerpunkten hat Maire aber auch heuer festgehalten. Durch sein Filmprogramm soll sich das Festival als Gradmesser seiner Zeit und dieser Welt zeigen.

Auf der Piazza wird wie gewohnt die Gratwanderung von Anspruch und Unterhaltung versucht. Gestartet wird so mit Julian Jarrolds Evelyn Waugh-Verfilmung "Brideshead Revisited", in der der Zerfall einer wohlhabenden britischen Adelsfamilie in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts beschrieben wird. Gegenpol zu diesem Historienfilm, dem freilich aktuelle Bezüge nicht fehlen sollten, stellt die skandinavische Posse "Back Soon" dar, mit der das Festival zehn Tage später beendet werden wird. Für schwarzen Humor dürfte die beim Festival in Sundance gefeierte Adaption von Chuck Palahniuks Roman "Choke" sorgen, die anlässlich der Verleihung des Excellence Award an die Hauptdarstellerin Anjelica Huston gezeigt wird, während Karim Dridi mit "Khasma" eine mit jungen Laiendarstellern gedrehte Sozialstudie der Marseiller Vorstadtsiedlungen und Zigeuner-Camps vorlegt.

Musikfilme kommen bei Open-Air-Veranstaltungen in der Regel immer gut an. So präsentiert Julien Temple mit "The Eternity Man" einen zeitgenössischen Opernfilm, der von der Gründung Sidneys erzählt, während sich der italienische Schriftsteller Alessandro Baricco mit seinem Kinodebüt "Lezione 21" auf die Spuren von Beethovens Neunter Symphonie begibt und der Deutsche Hannes Stoehr in "Berlin Calling" hautnah dem Berliner DJ Paul Kalkbrenner durch die Tanzclubs der Welt folgt.

Genrekino steuert Österreich bei mit Andreas Prochaskas Fortsetzung seines Horrorfilms "In drei Tagen bist du tot" und mit "Nordwand", in dem Philipp Stölzl die tragische Besteigung der Eiger Nordwand 1936 nachzeichnet.

Im Wettbewerb um den Goldenen Leoparden fällt zunächst auf, dass sich unter den 17 Filmen kein einziger aus den USA befindet. Kanada ist mit einer, Lateinamerika mit drei und Asien mit zwei Produktionen vertreten, die restlichen elf Filme kommen aus Europa. Sechs Debüts und vier zweite Spielfilme lassen wieder auf Entdeckungen junger Talente hoffen. Gespannt sein darf man so, was der Peruaner Josué Méndez, dem vor drei Jahren mit "Dias de Santiago" ein unglaublich intensives und formal aufregendes Debüt gelang, mit "Dioses" präsentieren wird. Eine alte Bekannte in Locarno ist die Niederländerin Mijke de Jong, die sich in "Katia´s Sister" wie zuletzt in "Tussenstand" mit dem Zerfall einer Familie auseinandersetzt. Der österreichische Dramatiker Klaus Händl wiederum schildert in seinem Regiedebüt "März" die Folgen des Selbstmords von drei Jugendlichen auf ein Dorf.

Persönliche und familiäre Krisen stehen auch im Mittelpunkt des russischen, des polnischen und des italienischen Wettbewerbsbeitrags, während der Brite Ben Hopkins mit "The Market – A Tale of Trade" in der Türkei eine moderne Fabel über das Geld und den Handel drehte. Der Franzose Emmanuel Finkiel wiederum zeichnet in "Nulle part terre promise" durch die Verknüpfung von drei Geschichten über das Reisen, arbeitsbedingte Ortsveränderungen sowie die Migration ein Porträt der westlichen Gesellschaft, während der Chinese Pan Jianlin in "Feast of Villains" am Beispiel eines verschuldeten Arbeitslosen die Lebensrealität in seiner Heimat schildert. Leichtere Kost dürfte da die Schweiz beisteuern, die mit Lionel Baiers Satire "Un autre homme" im Wettbewerb vertreten ist.

Wichtiges Parallelprogramm zum Wettbewerb – und oft aufregender als dieser – ist die Reihe "Cinéastes du présent". Insgesamt 17 Filme, darunter 12 Weltpremieren werden in dieser Sparte heuer gezeigt. Dominierend die Franzosen, Spanier und Lateinamerikaner, auffallend wiederum die völlige Absenz der US-Amerikaner. Der Bogen der erzählerisch eigenwilligen Filme spannt sich von "A Zona", in der der Portugiese Sandro Aguilar den Zuschauer auf eine Reise durch die Zeit nimmt, über die Schilderung des eintönigen Alltags eines Mannes und seiner schizophrenen Mutter in "Shorei X" des jungen Japaners Koki Yoshida bis zur Dokumentation des Alltags von Asylbewerbern in "La forteresse" des Westschweizers Fernand Melgar.

Piazza, Wettbewerb und "Cinéastes du présent" mögen im Mittelpunkt des Interesses stehen, doch daneben verdienen auch der Nachwuchsbewerb "Léopards de demain", die Sektion "Open Doors", die sich heuer dem lateinamerikanischen Filmschaffen widmet, oder die Schiene "Play Forward", in der Werke präsentiert werden, die versuchen Film, Video und andere Kunstgattungen miteinander zu verknüpfen, Beachtung.

Und schließlich bietet das 61. Filmfestival von Locarno einerseits mit der Nanni-Moretti-Retrospektive die Möglichkeit sich einen tieferen Einblick in das Werk dieses italienischen Filmregisseurs zu verschaffen und andererseits mit dem "Journée du Cinéma Suisse" am 12.8. und der Reihe "Appellation Suisse", in der eine Auswahl Schweizer Filme des letzten Jahres gezeigt werden, Anstoß und Chance den Blick genauer auf das eidgenössische Filmschaffen zu richten.