Viennale 2009: Ein Füllhorn starker Filme

2. November 2009
Bildteil

Wirklich Neues kann man auf der Viennale kaum entdecken, dafür bietet dieses "Festival der Festivals", das die Höhepunkte anderer Festivals herauspickt, eine einzigartige Fülle an starken Filmen. Vier Beispiele dafür sind Brillante Mendozas "Lola", Corneliu Porumboius "Politist, Adjectiv", C.S. Winters und Anders Edströms "The Anchorage" und Volker Koepps Dokumentarfilm "Berlin - Stettin".

Filmfestivals könnte man auch als Veranstaltungen definieren, an denen Massen in Filme strömen, nach denen im regulären Kinoprogramm kein Hahn kräht. Sind die Säle bei der Viennale schon tagsüber gut gefüllt und vielfach ausverkauft, herrscht um Karten für die Hauptabendvorstellung im Gartenbaukino, das immerhin rund 740 Besucher fasst, ein regelrechter Kampf – und zwar auch bei Filmen wie Jacques Rivettes "36 vues de Pic Saint-Loup" oder Claire Denis "White Material", bei denen sich ein Verleiher wohl zweimal überlegt, ob man die überhaupt ankaufen soll. Und wenn Lars von Triers "Antichrist" regulär anläuft, dürfte das Gartenbaukino auch bei weitem nicht mehr so proppenvoll sein wie bei der Viennale-Vorstellung.

Ausverkauft ist aber auch das – zwar ungleich kleinere - Metro-Kino, wenn dort am Nachmittag Brillante Mendozas "Lola" gezeigt wird. Mit dokumentarischem Gestus folgt der philippinische Regisseur zunächst lange wortlos einer alten Frau und ihrem Enkel durch Manila. Sintflutartig prasselt der Regen nieder, der Wind pfeift und im Bus wird die Frau und mit ihr der Zuschauer Zeuge, wie einer Mitfahrerin die Handtasche geraubt wird. Auf der Polizeistation will die alte Frau den Mord an ihrem Enkel melden, erfährt, dass dieser Fall aber schon aufgenommen und ein Verdächtiger schon verhaftet wurde.

Mendoza macht nichts weiter als den verzweifelten Versuch der Oma, Geld zur Finanzierung der Bestattung aufzutreiben und ihr Streben Gerechtigkeit zu bekommen, zu dokumentieren. Parallel dazu schildert er die Bemühungen der nicht minder mittellosen Großmutter des Täters, die sich rührend um ihren inhaftierten Enkel kümmert, zunächst einen Pflichtanwalt zu finden. Von diesem wird ihr aber empfohlen, um Geld zu sparen, einen – in den Philippinen ist das bei einem Mord möglich - außergerichtlichen Vergleich mit der anderen Partei anzustreben. Auch dafür muss freilich Geld aufgetrieben werden.

Keine Schnörkel, keine Beschönigungen kennt dieser Film, entwickelt in seinem unverfälschten Blick auf die großartig besetzten Protagonisten eine Wahrhaftigkeit, die ihn in eine Reihe mit den Meisterwerken des italienischen Neorealismus stellt. Ohne je penetrant zu werden und in Sozialkitsch oder Sentimentalität abzugleiten, werden überall bitterste Not, tiefer Schmerz und Trauer auf der einen Seite und die Emotionslosigkeit der Behörden mit der kalten Bürokratisierung des individuellen Schicksals, aber auch Geschäftemacherei und Geldgier auf der anderen Seite sichtbar. Unmissverständlich zeigt Mendoza auch, dass Geld zwar materielle Not lindern kann, aber nicht den emotionalen Schmerz und Verlust.

Ist Mendozas Film ein zutiefst bewegendes Plädoyer für Mitmenschlichkeit, so führt der Rumäne Corneliu Poromboiu in "Politist, Adjectiv" einen Diskurs über staatliche Gesetze und persönliches Gewissen. Auch Porumboiu beschränkt sich auf ein Minimum äußerer Handlung, nämlich darauf den jungen Polizisten Cristi bei der Observierung eines Schülers, den er im Auftrag seines Vorgesetzten des Handels mit Haschisch überführen soll, zu beobachten. Unterbrochen werden diese Szenen von Berichten Cristis an seinen Vorgesetzten und Diskussionen mit seiner Frau über sprachphilosophische Fragen.

Nichts scheint hier zu passieren und dennoch gelingt es Porumboiu die minutenlangen statischen Einstellungen der Gespräche ebenso wie die langen Schwenks und Parallelfahrten bei der Observierung bis in die äußerste Bildecke mit Spannung aufzuladen, diese gleichzeitig aber wieder mit knochentrockenem Humor, den die Szenen durch die Redundanz und Ausführlichkeit auch entwickeln, abzufedern.

Die Tristesse der postsozialistischen rumänischen Gesellschaft ist in jedem Bild dieses in Blau- und Grautöne getauchten Films, im fahlen Licht, in den am Boden liegenden Herbstblättern und den heruntergekommenen Siedlungen und Büroräumen spürbar.

Aus Gewissensgründen will Cristi sich dem Befehl widersetzen, will dem Schüler, dem im Falle einer Verurteilung eine mehrjährige Haftstrafe droht, nicht sein Leben verbauen, indem er ein Gesetz exekutiert, das im Westen, dem Rumänien nacheifert, längst abgeschafft ist und auch in Rumänien bald abgeschafft werden wird. Der Vorgesetzte aber verwickelt Cristi in einer fulminanten Schlussszene in eine Diskussion über Gewissen, Gesetz und Moral, in deren Verlauf Cristi aus einem Wörterbuch vorlesen muss und mit rhetorischen Manövern auf eine Handlungslinie gebracht wird, die nur noch von staatlichem Regelwerk bestimmt ist und Begriffe wie persönliche Verantwortung und Gewissensentscheidung nicht kennt.

Noch minimalistischer ist der schwedisch-amerikanische Film "The Anchorage", der beim Filmfestival von Locarno in der Kategorie "Cinéastes du présent" mit dem Hauptpreis ausgezeichnet wurde. Knapp 90 Minuten lang begleiten C. W. Winter und Anders Edström fast dialoglos eine Frau, die auf einer schwedischen Insel lebt durch ihr abgeschiedenes Leben. Allmorgendlich geht sie von ihrem Haus durch den Wald zum Meer, um kurz zu baden. Dann werden – es ist Spätherbst – Gartenabfälle verbrannt, ein Baum zersägt. Zunächst sind noch zwei Bekannte da, mit denen die Frau mal Tischtennis spielt, dann bleibt sie allein zurück. Am Abend kocht sie oder sitzt auf der Couch, fährt mal mit dem Boot ans Festland um einzukaufen und geht am Ende wieder durch den Wald zum Meer um zu baden.

Eintauchen muss man in diesen meditativen Rhythmus der Bilder und den Strom der wechselnden Töne, in das Grün des Waldes, das Grau der Felsen an der Küste und das dunkle Blau des herbstlichen Meeres oder das Rot des Feuers ebenso wie in den pfeifenden Wind, der von einem nahenden Sturm kündet, das Vogelgezwitscher, das Rauschen des Meeres oder das Aufheulen einer Motorsäge oder eines Mopeds. – Nichts geschieht scheinbar und doch weitet sich der Film, in dessen Nachspann die Regisseure nicht von ungefähr James Benning danken, zu einem Diskurs über Natur und Zivilisation über Wald und Meer und die Farben und Geräusche der Welt. In der Intensität, in der Winter und Edström das betreiben, kann "The Anchorage" zu einem wahren Augen- und Ohrenöffner werden – und nicht aus dem Kopf will eine Einstellung, in der hinter dem Haus eine Person im gelben Regenmantel durchs Bild huscht: War das nur Einbildung des Zuschauers, ein Regiefehler oder aber eine gezielt gesetzte Irritation?

Weit zugänglicher ist da der neue Dokumentarfilm von Volker Koepp. In "Berlin – Stettin" – der Titel ist einem Spiel entnommen, das Koepp in seiner Kinderzeit spielte – erkundet der deutsche Dokumentarfilmer ausgehend von einem Brief, der ihn in seine früheste Kindheit zurückführt, ein weiteres Mal die Region nördlich von Berlin. Da spannt sich der Bogen vom Bericht über die mehrfache Vergewaltigung seiner Mutter durch russische Soldaten während des Kriegsendes über seine Kindheit in Berlin bis zu seinen Dokumentarfilmen über eine Ziegelfabrik, eine Textilfabrik und eine Schweißerei in der ehemaligen DDR.

Ausschnitte aus diesen schwarzweißen Filmen verknüpft Koepp mit aktuellen Gesprächen mit den damaligen Protagonisten und spannt so den Bogen von der DDR über die Wende und die damit verbundenen Hoffnungen bis zur Gegenwart, fasst aber gleichzeitig auch sein Werk wie unter einem Brennspiegel zusammen.

Wie Koepp die Leute zum Reden bringt und ihnen alle Zeit zum Reden lässt, sich selbst aber zurückhält, wie hier ein Nahverhältniss zwischen Filmemacher und Gesprächspartnern spürbar wird und wie in die Gespräche immer wieder grandiose Totalen der Gegend mit ihrem weiten Himmel den Feldern und Wäldern eingeschnitten werden, das verleiht "Berlin- Stettin" nicht nur Poesie und einen großen Atem, sondern auch einen wunderbar unaufgeregten Rhythmus, der den Zuschauer in diesem Film und seiner Welt förmlich versinken lassen könnte – wären da freilich nicht die Szenen- und Personenwechsel, die einen immer wieder aus dem Film herausreißen und ihn in Einzelteile zerfallen lassen, die sich zwar inhaltlich, aber nicht formal zu einem großen Ganzen fügen.