Crossing Europe 2013: Unsicherheit und Sehnsucht nach Veränderungen

29. April 2013
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Die gewohnt klare Struktur und ein starkes Profil prägten auch die 10. Auflage des Linzer Crossing Europe Filmfestivals. Der Wettbewerb, in dem Ektoras Lygizos" "Boy Eating the Bird"s Food" mit dem mit 10.000 Euro dotierten Crossing Europe Award ausgezeichnet wurde, erreichte zwar insgesamt nicht das Niveau vergangener Jahre, bot aber durchwegs engagierte Filme abseits des Mainstreams.

Bei 162 Filmen in sechs Tagen kann man sich unmöglich einen gesamten Überblick verschaffen. Man kann entweder in die elf verschiedenen Sektionen hineinschnuppern oder sich auf eine konzentrieren. Herz des Festivals ist der Wettbewerb um den Crossing Europe-Award, in dem man ein Sprungbrett für junge europäische AutorenfilmerInnen sehen kann.

Abgesehen von Scott Grahams großartigem "Shell" fehlten hier heuer zwar die herausragenden Filme, auffallend waren dafür inhaltliche und formale Parallelen. So standen in allen neun Wettbewerbsfilmen – wohl auch bedingt durch das Alter der Regisseure – junge ProtagonistInnen im Mittelpunkt. Als wiederkehrendes Thema kristallisierten sich dabei Unsicherheit und Sehnsucht nach einem Neubeginn heraus.

Während im mit dem Publikumspreis ausgezeichneten "Animals" des Spaniers Marcal Forés ein introvertierter Schüler mit seiner Pubertät zu kämpfen hat, kann sich in Tom Shkolniks "The Comedian" der 32jährige Ed nicht zwischen Job im Callcenter und Traumberuf als Komiker sowie zwischen Freundin und Freund entscheiden. Lebt dieser weitgehend improvisierte Film vom lebensechten Spiel und der Nähe zu den Figuren, so setzt Fores auf elegante Bilder, doch die Verbindung von Coming-of-Age-Geschichte und Elementen eines Mystery-Thrillers wirkt erzwungen und geht nicht auf.

Unsicher im Leben steht auch die 30-jährige Electra in Constantina Voulgaris "A.C.A.B All Cats Are Brilliant". Wie in vielen Wettbewerbsfilmen folgt die Kamera hautnah der jungen Frau (großartig: Maria Georgiadu), die von den Eltern gedrängt wird endlich einen "richtigen Job" zu suchen, doch selbst lieber als Babysitterin arbeitet und sich an Demonstrationen gegen den Sparkurs der griechischen Regierung engagiert.

Stimmig fängt Voulgaris in der Einbindung von realen Demonstrationen die Atmosphäre im von der Krise gezeichneten Land ein, zeichnet gleichzeitig aber auch überzeugend und mitfühlend das Porträt einer Generation und schafft es trotz der realistischen Schilderung ihren Film optimistisch enden zu lassen.

Noch näher an seinem Protagonisten ist Ektoras Lygizos in dem preisgekrönten "Boy Eating the Bird"s Food". Nie gewährt der 37jährige griechische Film- und Theaterregisseur einen Überblick, fokussiert ganz auf dem jungen Yorgos, der keinen Job hat und beinahe ohne jeden sozialen Kontakt in einem heruntergekommenen Block lebt. Er ernährt sich von Abfällen oder lässt beim Nachbarn Nahrungsmittel mitgehen, masturbiert sogar, um sein eigenes Sperma zu essen, teilt aber vor allem die Körnchen mit seinem Kanarienvogel. Wie dieser ohne Bewegungsfreiheit im Käfig sitzt, so wirkt auch Yorgos durch die Klaustrophobie erzeugende nahe Kameraführung in seinem Leben eingesperrt. Doch wie Voulgaris lässt auch Lygizos in seinem beklemmenden und formal konsequenten, aber in der Reduktion und Redundanz auch ermüdenden Film am Ende leise Hoffnung aufkeimen.

Während "Boy Eating the Bird"s Food" die aktuelle griechische Krise nie konkret angesprochen wird, ihre Auswüchse sich im Leben von Yorgos höchstens spiegeln, der Film aber auch abgehoben von dieser Aktualität gelesen werden kann, lebt Aida Begics "Djeca - Children of Sarajewo" gerade von der Einbettung der Geschichte in die bosnische Realität und Kriegsvergangenheit.

Auch Begic folgt mit beweglicher Handkamera hautnah der 23jährigen Kriegswaise Rahima, die in der Küche eines Restaurants arbeitet und sich gleichzeitig um ihren jüngeren Bruder kümmern muss. Eindringlich macht die bosnische Regisseurin erfahrbar, wie Musik oder das Explodieren von Feuerwerkskörpern, traumatische Erinnerungen an den Krieg auslösen, die in unscharfen und verwackelter Found-Footage visualisiert werden, und zeichnet gleichzeitig realistisch und getragen von einer starken Marija Pikic in der Hauptrolle ein atmosphärisches dichtes Bild vom Überlebenskampf im Sarajewo von heute.

Gibt es für Begics Protagonisten keinen Gedanken an ein Verlassen des Landes, so bestimmt dieser sowohl die junge Wahrsagerin Mina im türkischen Beitrag "Present Tense" als auch die in der Slowakei aufwachsende Dorotka in "Made in Ash". Während Mina von den USA träumt, in Belmin Söylemez stimmungsvoll gefilmtem, aber in seinen endlosen Momenten des Schweigens und seinen Wiederholungen auch langatmigem Film aber doch nicht aus dem wolkenverhangenen Istanbul wegkommt, sucht Dorotka nach dem Schulabschluss ihr Glück in dem an der deutsch-tschechischen Grenze gelegenen Ash. Dort allerdings verliert sie rasch ihre Illusionen, denn die Unterkunft ist miserabel, die Textilfabrik, in der sie zunächst einen Job als Näherin findet, wird geschlossen, und einzige Möglichkeit Geld zu verdienen bleibt die Prostitution.

Im schonungslos realistischen Blick spürt man die Herkunft der Regisseurin Iveta Grofova vom Dokumentarfilm, doch über die Schilderung der bedrückenden Situation kommt "Made in Ash" letztlich nicht hinaus und der Einsatz von verwackelter Handykamera und Animationsszenen hinterlässt mehr den Eindruck eines unausgegorenen stilistischen Mischmasch als einer überzeugenden und originellen Erzählweise.

Wenn man die Wettbewerbsfilme des heurigen Festivals als Gradmesser für den Zustand Europas nimmt, ergibt sich ein tristes Bild, denn nichts zu lachen gab es in diesen Filmen und etwas Auflockerung und Abwechslung hätte nicht geschadet. Andererseits zeigte sich in dieser Auswahl auch wieder die Konsequenz und Kompromisslosigkeit, mit der Festivalleiterin Christine Dollhofer und ihr Team programmieren: Hier wird nicht aufs Publikum geschielt, sondern versucht sozial engagierten und formal innovativen Filmen, die nur selten den Weg ins normale Kinoprogramm finden, eine Plattform zu bieten.