71. Locarno Festival: Licht und Schatten am Lago

"Diane", "Sibel", "Alice T." – schon die Titel dieser Wettbewerbsfilme weisen darauf hin, dass Frauen im Zentrum stehen. Auf der Piazza Grande präsentierte dagegen Sandra Nettelbeck mit "Was uns nicht umbringt" einen breit angelegten Ensemblefilm. – Nicht alle Werke vermochten in gleicher Weise zu überzeugen, ganz dunkel wurde es in Alberto Fasulos "Menocchio".

Nach Kent Jones mit "Diane" stellten auch Cagla Zencirci und Guillaume Giovanetti mit "Sibel" eine starke Frauenfigur ins Zentrum. Wie "Diane" wird auch der Film des französisch-türkischen Duos von einer großartigen Hauptdarstellerin getragen. Hautnah ist die Kamera an Damla Sönmez dran, folgt der stummen 25-jährigen Protagonistin bei ihren Streifzügen durch die Wälder ihres im Hinterland des Schwarzen Meers gelegenen Dorfs ebenso wie bei der Feldarbeit mit den Frauen.

Aufgrund ihres Handicaps ist Sibel im Dorf eine Außenseiterin, ihr verwitweter Vater, der Bürgermeister ist, fördert sie aber und gesteht ihr Freiräume zu, sodass sich ihre jüngere Schwester zurückversetzt fühlt. Verständigen kann sich Sibel mittels einer Pfeifsprache, die nicht nur Vater und Schwester, sondern auch die Dorfbewohner verstehen.

Als sie im Wald auf einen geflohenen Wehrdienstverweigerer stößt, verheimlicht sie dies und kümmert sich um den Verletzten. Während sich diese Außenseiter näherkommen, entfernt sie sich damit immer mehr nicht nur von der Dorfgesellschaft, sondern auch von ihrem Vater und beginnt Widerstand zu leisten, als dieser seine patriarchale Macht durchsetzen will.

In zupackendem Stil, der den Zuschauer direkt ins Geschehen hineinzieht, zeichnen Zencirci/Giovanetti das Bild nicht nur einer dörflichen türkischen Gesellschaft, in der Tradition und Ehre über alles gehen, sondern auch das Porträt einer jungen Frau, die aus Menschlichkeit sich über diese rigiden Regeln hinwegsetzt, dafür zwar Ächtung erfahren muss, die Auswirkungen auf die Familie hat, mit ihrem couragierten Handeln aber auch – wie die letzte, hoffnungsvolle Einstellung andeutet – Vorbild für andere junge Frauen sein kann.

Gleichzeitig ist das aber auch eine Kritik am Erdogan-Regime, in dem die Propaganda jeden Wehrdienstverweigerer zum Terroristen erklärt und Feindbilder aufbaut, um das Volk zu lenken.

Die konsequente Fokussierung auf der Protagonistin zeichnet auch "Alice T." des Rumänen Radu Muntean aus. Wie dieser rothaarige Teenager stets im Zentrum stehen will, ist dieses im höchsten Maße manipulative Mädchen, das zunächst seine Schwangerschaft der Mutter verschweigen will, dann vorgibt das Kind bekommen zu wollen, es aber doch abtreibt, aber diese Abtreibung wiederum ihrer Umwelt verheimlicht, in jeder Szene präsent.

Auf jede Psychologisierung und Erklärung für Alices Verhalten verzichtet Muntean dabei, sodass dem Zuschauer seine Protagonistin nicht nur fremd bleibt, sondern auch zunehmend unsympathischer wird. Wenig kann man somit letztlich mit diesem Film anfangen, weil auch nicht klar wird, worauf der Rumäne letztlich hinaus will und sich aufs kühle und emotionslose Zeigen beschränkt.

Ein alternder Müller steht dagegen im Zentrum von Alberto Fasulos "Menocchio". Im späten 16. Jahrhundert wurde dieser in einem norditalienischen Dorf lebende Mann von der katholischen Kirche der Ketzerei angeklagt, weil er unter anderem die Meinung vertrat, dass Maria auch Sünden beging oder er Gott in Wasser, Feuer, Erde und Luft sah.

Fasulo inszeniert das Vorgehen der Kirche gegen Menocchio als äußerst statisches und wortlastiges Gerichtsdrama. In dunklen Verliesen, die wohl auch die Kosten für die Ausstattung gering hielten, lässt er in zahllosen Großaufnahmen die Aussagen aufeinandertreffen. Weder Relevanz für die Gegenwart noch erzählerische Kraft entwickelt dieser Historienfilm dabei in seiner schwerfälligen Erzählweise und fand den Weg in den Wettbewerb wohl nur, weil eine italienische Produktion beim Tessiner Festival nie fehlen darf.

Kennzeichnet bislang die Fokussierung auf einen Protagonisten viele Wettbewerbsfilme, so entwickelt Sandra Nettelbeck in ihrer auf der Piazza Grande uraufgeführten Tragikomödie "Was uns nicht umbringt" die Handlung vor allem in die Breite. Im Stil von Robert Altmans legendärem "Short Cuts", P.T. Andersons "Magnolia" oder zuletzt "Einsamkeit und Sex und Mitleid" verknüpft die deutsche Regisseurin ausgehend von einem Psychotherapeuten und seinen Klienten an die zehn Schicksale, in denen es immer wieder um Beziehungsprobleme und die Suche nach Glück geht.

Großartig ist zwar das Ensemble mit unter anderem Barbara Auer, Mark Waschke, August Zirner, Jenny Schily, Christian Berkel und Peter Lohmeyer, doch das Drehbuch hört man bei den einzelnen Geschichten und der Zeichnung der Figuren immer wieder rascheln. Zu mechanisch werden diese immer wieder verknüpft, zu abrupt wechseln die Episoden, zu wenig Raum erhalten die Schauspieler, als dass die Figuren Tiefe gewinnen und ihre Schicksale bewegen könnten, und zu verbraucht sind inzwischen die behandelten Themen und die Erzählweise. – Aus dem großen Entwurf wird so letztlich nur lebloses Retortenkino, bei dem auch die aseptisch aufgeräumten Bilder keine Atmosphäre aufkommen lassen.