Zeit der Niederschläge

8. August 2007
Bildteil

Packend sind die Fragen von Schuld und Vergebung, die beim 60. Filmfestival von Locarno die Wettbewerbsbeiträge "Freigesprochen" und "Ai no yokan – The Rebirth" aufwerfen, doch die Umsetzung des Themas überzeugt nicht. Wirklich gelungen mag auch das schweizerisch-italienische Boxerdrama "Fuori dalle corde" nicht sein, aber immerhin bietet Fulvio Bernasconi kraftvolles Kino mit dichter Milieuschilderung.

Der Österreicher Peter Payer hat Ödön von Horvaths Drama "Der jüngste Tag" in die Gegenwart verlegt: Abgelenkt durch den Besuch einer Bekannten und einen Kuss ist der Fahrdienstleiter eines ostösterreichischen Dorfes kurz unachtsam – die Folgen sind fatal: Ein Eisenbahnunglück mit über 20 Toten. Vom Gericht wird Thomas zwar freigesprochen, doch die Schuldgefühle wird er ebenso wenig los wie seine Bekannte Anna. Zerbrechen daran einerseits die bisherigen Lebensentwürfe, verbindet Thomas und Anna andererseits von nun an zunehmend stärker die gemeinsame Schuld und es entwickelt sich eine obsessive Liebe.

Plastisch werden die verheerenden Folgen der kleinen Unachtsamkeit aufgezeigt und beklemmend ist die Frage nach dem Umgang mit und der Verarbeitung von Schuld. Packend inszeniert ist denn auch der Beginn von "Freigesprochen", doch bald verfliegt die Spannung auch schon, denn Payer findet keinen filmischen Stil, reiht holprig Szenen aneinander, ohne sie zu verdichten. Der Österreicher beschränkt sich auf das oberflächliche Erzählen der Geschichte, vergisst dabei aber diese durch detailreiche Inszenierung glaubwürdig im Milieu zu verankern. Nicht in einem konkreten dörflichen Raum, sondern eher vor diesem agieren die Figuren. So entsteht nie Atmosphäre, was auch dadurch zu erklären ist, dass der Einsatz bundesdeutscher, ohne dialektale Färbung sprechender Schauspieler nicht unbedingt zum Schaffung von Lokalkolorit beiträgt.

Um realistische Milieuschilderung bemüht sich Masahiro Kobayashi in "Ai no yokan - Rebirth" in seinem Willen zur absoluten Reduktion gar nicht erst. Ein Jahr nach dem Mord an einer Schülerin treffen sich die Mutter der Täterin und der Vater des Opfers wieder. Täglich begegnen sie sich nun, denn der im Stahlwerk arbeitende Mann wohnt in einem Zimmer im Block, in dessen Kantine die Frau als Küchengehilfin arbeitet. Miteinander sprechen werden sie jedoch nie und auch sonst verzichtet Kobayashi – abgesehen von statisch gefilmten Interviews am Beginn - auf jeden Dialog ebenso wie auf Musik. Wie im Schmerz erstarrt und im Leben schon tot wirken die beiden Figuren und die Monotonie des Alltags wird durch die Inszenierung noch betont. Beinahe ohne Variation, zumeist auch in identen Einstellungen, zeigt Kobayashi die Arbeit im Stahlwerk, die Fahrt zur Wohnung, das Essen in der Kantine und andererseits die Küchenarbeit der Frau und ihr Gang nach Hause. Auch die äussere Kälte, die Trostlosigkeit der Gegend und die fahlen Farben, aus denen fast nur das Feuer des Hochofens und ein Cola-Automat herausstechen, betonen die Trostlosigkeit. Im Repetitiven dieser Szenen, in die sich erst langsam gegen Ende kleinste Veränderungen einschleichen, die einen Funken Hoffnung aufkommen lassen, vermittelt "Ai no yokan" freilich nicht nur, wie mühsam, schwierig und quälend der Weg zur Vergebung ist, sondern stellt auch eine Geduldsprobe für den Zuschauer dar. – Zu weit getrieben hat der Japaner hier wohl seinen Minimalismus.

Handfestes kraftvolles Kino bietet dagegen der Tessiner Fulvio Bernasconi, der in "Fuori dalle corde" ein düsteres, in Triest und Kroatien spielendes Boxerdrama erzählt. Vom grossen Kampf träumt Mike und seine Schwester motiviert ihn daran festzuhalten, doch die Organisatoren lassen ihn immer wieder im Stich, annullieren seine Kämpfe oder lassen durch Schiebung den Gegner gewinnen. So gleitet Mike ins Milieu der illegalen Kämpfe ab, bei denen alle Mittel erlaubt sind und der Gegner manchmal sogar getötet wird.

Dicht schildert Bernasconi in diesem vorwiegend bei Nacht spielenden Film in dunklen Farben das schäbige Milieu. Trostlos die Wohnung in einer desolaten Hochhaussiedlung, trist der Job der Schwester in einer Fischfabrik. An die Filme von Martin Scorsese und Fatih Akin kann man hier denken und zusätzliche Tiefe gewinnt "Fuori dalle corde" durch die Herstellung von religiösen Bezügen ebenso wie zum faustschen Teufelspakt. Doch leider bleibt es beim oberflächlichen Anreissen dieser Motive und auch die Geschichte versteht Bernasconi nicht überzeugend und packend bis zum Ende zu entwickeln. Statt dass die Spannungskurve konsequent gesteigert wird, verflacht sie eher und enttäuschend ist schließlich das Ende. – Gespür für Atmosphäre und ausgesprochen physisches, mehr amerikanisches als europäisches Kino hat Bernasconi mit dieser Schilderung eines Abstiegs in eine Hölle auf Erden aber allemal bewiesen.