Wenn Filme 24 mal pro Sekunde lügen

6. Juli 2009 Walter Gasperi
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Film sei die Wahrheit 24 mal pro Sekunde lautet einer der bekanntesten Aussprüche von Jean-Luc Godard. Doch in den letzten Jahren ist den Bildern, die man im Kino sieht, vermehrt nicht mehr zu trauen. Denn Regisseure erlauben sich zunehmend kühner den Zuschauer bewusst hinters Licht zu führen, entlarven mit einer überraschenden Schlusswendung das ganze zuvor Gesehene dann als Täuschung und zwingen das Publikum retrospektiv den Film zu überdenken.

Geschichten werden im Kino erzählt, seit seinen Anfängen vor mehr als 110 Jahren bestimmt - abgesehen vom Experimentalfilm - die Narration diese Kunstform. Die Abfolge von Ruhe, Unruhe und Wiederherstellung der Ruhe sowie von Problem und Problemlösung bestimmt immer noch quer durch die Genres den Aufbau von Filmen.

Doch Jean-Luc Godards Diktum, dass ein Film einen Anfang, eine Mitte und einen Schluss brauche, erweiterte David Lynch in einem Interview durch den Zusatz "...nicht unbedingt in dieser Reihenfolge". Rückblenden sind eine Möglichkeit diese Ordnung zu durchbrechen. Besonders im amerikanischen Film noir der 40er Jahre des 20. Jahrhunderts wurde diese Technik eingesetzt. Nichts konnte in diesen düsteren Krimis die fatalistische Grundstimmung, in der sich die politische Instabilität während des 2. Weltkriegs und die Verunsicherung und Bedrohung durch den beginnenden Kalten Krieg spiegelte, mehr zum Ausdruck bringen. Ob in "The Killers" ("Rächer der Unterwelt", 1946) von Robert Siodmak, "Double Indemnity" ("Frau ohne Gewissen", 1944) von Billy Wilder oder "Out of the Past" ("Goldenes Gift", 1947) von Jacques Tourneur - schon zu Beginn ist hier alles verloren, und es gibt keine Zukunft, da die Vergangenheit in die Gegenwart hereinwirkt.

Was man in diesen Rückblenden, die immer in einer sich erinnernden Person geortet sind, sah und sieht, durfte und darf man als wahr ansehen. Lügen durften die Figuren zwar mit Worten, aber den Bildern durfte man immer vertrauen. Es galt das Prinzip "Seeing is Believing" und, wer es durchbrach, wie Alfred Hitchcock, der 1950 in "Stage Fright" ("Die rote Lola") eine Figur in einer Rückblende eine Geschichte erzählen ließ, die sich später als Lüge erweist, wurde heftig kritisiert.

Dass man freilich Personen und Ereignisse verschieden sehen kann, machte schon in dieser Zeit Orson Welles mit "Citizen Kane" (1940) deutlich, indem er multiperspektivisch von fünf Personen das Leben des Zeitungsmagnaten Kane erzählen lässt. Den Diskurs über Wahrheit und Lüge stellte Akira Kurosawa dann ins Zentrum von "Rashomon" (1950), in dem er mehrere Personen vom selben Verbrechen erzählen lässt und deutlich wird, dass ihre Sicht der Dinge völlig unterschiedlich ist.

Während diese Filme ebenso wie Michelangelo Antonionis "Blow Up" (1966) und Peter Greenaways "The Draughtman`s Contract" (1982), die beide vielschichtig die Zuverlässigkeit der Wahrnehmung in Frage stellen und über Realität und Imagination reflektieren, die Wahrheitsfrage immer explizit diskutieren, sind in den letzten Jahren vermehrt Filme entstanden, die etwas als wahr vorgeben, was sich ab einem bestimmten Zeitpunkt eindeutig als Täuschung und Lüge erweist.

So ein begnadeter Erzähler ist der von Kevin Spacey gespielte – nomen est omen – Verbal in Brian Singers "The Usual Suspects" (1995). In verschachtelten Rückblenden – der Einfluss des Film noir ist unübersehbar - tischt dieser Verbal eine Geschichte nach der anderen auf und am Ende schaut dann alles doch wieder ganz anders aus. In die Irre geführt wird der Zuschauer seither freilich immer öfter, nicht mehr nur durch die Lügen einer erzählenden Figur, sondern auch durch den Erzähler des Films, dem bislang keine Lüge zugetraut wurde. So wird auch in David Finchers "Fight Club" (2000) und in M. Night Shyamalans "The Sixth Sense" (1999) durch die Schlussszene und in Radu Mihaileanus "Train de Vie" ("Zug des Lebens", 1998) allein durch die letzte Einstellung der ganze zuvor gesehene Film auf den Kopf - oder vielmehr auf die Füße - gestellt. Nicht zu trauen ist den Bildern inzwischen auch im Mainstream-Kino wie in Ron Howards "A Beautiful Mind" (2001), in dem sich die vermeintliche Realität als Trugbild der schizophrenen Hauptfigur entpuppt.

Der Clou dieser Filme, zu denen beispielsweise auch Laetitia Colombanis "A la folie ... pas du tout" ("Wahnsinnig verliebt", 2002) zu zählen ist, besteht darin, dass sie ihre Geschichte ganz realistisch erzählen, nichts oder fast nichts Anlass gibt den Bildern zu misstrauen und die vielleicht vorhandenen geringfügigen Irritationen vom Zuschauer geschluckt oder nicht wahrgenommen werden. So können diese "hinterhältigen" Filme, deren Spielart Marc Forster mit seinem Thriller "Stay" (2006) vielleicht auf die Spitze treibt, indem er den Zuschauer stets neue kausale Handlungsketten suchen lässt, bis das ganze Handlungsgerüst in der finalen Wendung förmlich implodiert, die Wahrnehmung schulen, den Zuschauer sensibilisieren und seinen Glauben an den Wahrheitsgehalt von Bildern und visuellen Erzählungen nachhaltig erschüttern.

Gleichzeitig sorgt dieses Aufbrechen der narrativen Codes der sich vielfach in ausgetretenen Pfaden bewegenden Genres auch für Spannung und Aufmerksamkeit, gibt der Mix aus konventioneller Geschichte und Bruch mit den filmischen Regeln dem Film geradezu den entscheidenden Dreh.

Davon profitieren auch die Filme von David Lynch wie "Lost Highway" (1996) oder "Mullholland Drive" (2002). in deren Endlosschleifen aus Traum, Imagination und Realität man sich hoffnungslos verlieren kann und die Irritation und Täuschung ebenso wenig aufgelöst werden soll, wie bei David Cronenbergs "eXistenZ" (1999), in dem über das Ende hinaus offen bleibt, wo die Grenzen zwischen der Computerspielwelt und der Realität der filmischen Welt verlaufen. – "Are we still in the game?" ist denn in Cronenbergs Thriller auch die Schlussfrage.