Weit entfernt, von weit entfernt!

26. Mai 2010 Rosemarie Schmitt
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"Süß, sanft und abgestoßen", dies ist der Titel einer CD, die im April bei dem Naxos-Label "Tudor" erschien. Und da seit jeher die italienische Sprache für musikalische Bezeichnungen angewandt wird, trägt dieses Album den wunderbaren Titel "Dolce e staccato". Das "Barockorchester Capriccio" (wie plump klänge dagegen "Barockorchester Laune"!) präsentiert unter der Leitung von Dominik Kiefer Kompositionen von Georg Philipp Telemann.

Ist Ihnen bekannt, daß die aus dem griechischen abgeleitete Vorsilbe "tele" soviel bedeutet wie "weit entfernt"? Doch Tele-mann war weit entfernt davon, weit entfernt zu sein! Er sei ein sehr lebensnaher und auch bodenständiger Mensch gewesen, sagt man. Auch noch heute ist seine Musik, mehr als dreihundert Jahre nachdem er geboren wurde, stets präsent. Sie ist und geht uns nah, immer wieder. Telemann war ein recht leidenschaftlicher Mensch, nicht nur in musikalischer Hinsicht. So sammelte er beispielsweise und beispiellos kostbare Blumen. Dieses Hobby würde man doch eher einer Telefrau als einem Telemann zuordnen. Finden Sie nicht auch? Georg Friedrich Händel bedankte sich einst bei seinem Kollegen Georg Philipp mit einer Kiste kostbarster Blumenzwiebeln. Telemann hatte diesem vier (!) Jahre zuvor die Intervall-Lehre "Neues musikalisches System" zukommen lassen. Händel war jedoch vier Jahre lang der Meinung, sein Hamburger Kollege Telemann sei verstorben, denn ihm wurde irrtümlich dessen Tod mitgeteilt.

Die beiden lernten sich im Jahre 1701 kennen und schätzen. Georg Philipp Telemann reiste nach Halle, um den "damahls schon wichtigen Herrn Händel" kennenzulernen. Der wichtige Herr Händel, wie Telemann ihn nannte, war gerade mal sechzehn Lenze jung! Aber damals war das so. Da ging man noch respektvoll miteinander um. Telemann sprach später über diese erste Begegnung als "Beginn einer konstruktiven und produktiven Zusammenarbeit". (...) hatten Händel und ich, bey öffteren Besuchen auf beiden Seiten, wie auch schriftlich, eine stete Beschäftigung (...) Obgleich es Telemann niemals an Beschäftigung mangelte. Und er beschäftigte sich nicht ausschließlich mit Musik und Blumen. Im Oktober 1709 ehelichte er das Fräulein Amalie Luise Juliane Eberlin aus Eisenach. Doch bereits eineinhalb Jahre später starb diese bei der Geburt der Tochter.

1714 heiratete Telemann die sechzehnjährige Maria Catharina Textor, die ihm in zwölf Jahren neun Kinder gebar, von denen zwei starben. Zehn Jahre nach der Geburt des letzten Kindes trennte sich Telemann von ihr, als er "dahinter kam", daß seine Angetraute im Glücksspiel 5000 Reichstaler verloren hatte. Da dies zu jener Zeit offenbar als Scheidungsgrund inakzeptabel war, schied das Gericht wegen Ehebruchs Maria Catharinas. Sie ging 1735 nach Frankfurt zurück, und in Hamburg streute man derweil das Gerücht, die gnädige Frau sei verstorben. Man weiss ja nie... So lebte Georg Philipp Telemann noch 32 Jahre produktive und reiche Jahre als "Witwer". Er starb im Alter von 86 Jahren.

Einst, zu seiner Zeit als Hofkapellmeister am Eisenacherhofe, saß Telemann zusammen mit dem Hofpoeten, um den Auftrag zu erfüllen, innerhalb von zwei Stunden eine Kantate zu komponieren. Während der Arbeit dupfte der Poet Telemann in die Seite mit den Worten: "Herr Capellmeister! Hier möchte‘ ich acht Tacte Pause haben! Der Clarrinettist kann sonst nicht umwenden!" Telemann sah ihn halb verwundert, halb zornig an, endlich brach er mit lautem Lachen in die Worte aus: "Meinetwegen! Acht Takte Pausen! Eine Liebe ist der anderen werth." Sie wurden in drey Stunden fertig, die Cantate wurde prima vista executiert und ausserordentlich applaudiert. Nach der Aufführung kam der Hofpoet zu Telemann vertraulich: "Sehen Sie, Herr Capellmeister, was meine acht Tacte gewirkt haben?" (aus :Allgemeine Musikalische Zeitung - mit besonderer Rücksichtnahme auf den österreichischen Kaiserstaat - Nr. 62 vom 4. August 1821)

Weshalb ich Ihnen dies alles erzähle statt die CD "anständig" und wie "es sich gehört" zu rezensieren? Weil ich Ihnen sagen möchte, wie spät es ist, ohne Ihnen die Funktion des Uhrwerkes zu erklären. Wenn ich mir den Menschen, der hinter dem Komponisten steckt vertraut mache, klingt dann nicht mit einem Male seine Musik intensiver? Wenn ich diesen Menschen vor mir sehe mit all seinem Leben, seinen Lieben, seinen Schwächen und Zipperleins, so klingen seine Kompositionen doch ein klein wenig fühlbarer. Sie müssen sich ja nicht gleich einen "Starschnitt" von Telemann mit Reiszwecken an die Schlafzimmerwände hängen.

Lassen Sie sich von dem "Barockorchester Capriccio" entführen in die Welt und in das Leben Georg Philipp Telemanns. Geniessen Sie seine Ouvertüren, sein Concerto in E-Dur für Traversflöte, Streicher und Basso continuo. Mein Favorit auf dieser CD ist die Sonate f-Moll, mit der ich mich Telemann und seiner Zeit ganz besonders nahe fühle.
Und weit davon entfernt, weit entfernt zu sein.

Herzlichst,
Ihre Rosemarie Schmitt