WegZeichen

Im Gedenkjahr zum 150. Jahrestag des Beginns diplomatischer Beziehungen zwischen Japan und der Schweiz und im Jubiläumsjahr seines eigenen 125-jährigen Bestehens präsentiert das Völkerkundemuseum der Universität Zürich ein in seiner Art einzigartiges Zeugnis japanischer religiöser Gedankenwelt und Glaubenspraxis: die Sammlung Wilfried Spinner.

In den Sammlungen des Völkerkundemuseums finden Gegenstände und Darstellungen aus lokalen Glaubens- und Pilgerkulturen so mancher Region der Welt als Mosaikstücke zusammen – von Almosenschalen und Amuletten über Figuren und Bilder von Gottheiten bis zu Pilgerkleidung. Eine dieser Sammlungen umfasst 80 japanische Kult- und Pilgerbilder aus der Edo- (1603–1868) und Meiji-Zeit (1868–1912). Seit 30 Jahren hier verwahrt, wurde sie jüngst im Rahmen eines internationalen Forschungsprojekts als faszinierende Informations- und Wissensquelle zu einem Bereich japanischer Religiosität erkannt, der bisher in kunsthistorischen und ethnologischen Kreisen kaum Beachtung fand.

Die als Hängerollen montierten Bilder wurden vom Schweizer Theologen, Pfarrer und Missionar Wilfried Spinner gegen Ende des 19. Jahrhunderts in Japan zusammengetragen. Aufgerollt und in den zeitgeschichtlichen Kontext gebracht, offenbaren sich die auf den ersten Blick schlicht anmutenden Schwarzweiss-Drucke und Malereien als Schatz von aussergewöhnlicher kultureller Aussagekraft und aufschlussreichem wissenschaftlichem Wert.

Die Sammlung gibt Aufschluss über die aus zahlreichen Formen gespeiste Formenwelt und die Tiefe japanischer Religiosität am Beginn der Moderne. Sie zeigt ein lebhaftes Bild der real gelebten Glaubenspraxis, die sich wenig um Grenzen und Doktrinen kümmert, und stellt daher nicht nur herkömmliche Vorstellungen japanischer Religionen in Frage, sondern spiegelt auch eine traditionell verankerte Koexistenz verschiedener Glaubensrichtungen wider.

An den Papieramuletten (ofuda) und ikonischen Bildern ist ablesbar, dass Tempelbesuch und Pilgerreise, das Darbringen von (Opfer-)Gaben und das Mitnehmen von gesegneten Gegenständen nicht allein mechanisch ritualiserte Abläufe sind, sondern vielmehr bewusst vollzogene Handlungen in einem fein strukturierten sozial-religiösen Beziehungs- und Wertesystem. Die Bilder sind Ausdruck eines ausgeprägten, gepflegten Rollenverständnisses, von Kontextwissen über Tempel, Gottheiten und deren ablösbare Wirkkräfte, von Möglichkeiten des Gebens und Nehmens in einer Kultur religiösen Vertrauens.

Wilfried Spinner hielt sich als Mitbegründer und erster Missionar des Allgemeinen Evangelisch-Protestantischen Missionsvereins (AEPM) zwischen 1885 und 1891 in Tokio, Yokohama und Kyoto auf. Er betreute die deutschsprachigen christlichen Auslandsgemeinden, gründete erste japanische Christengemeinden, hielt Vorträge und unterrichtete. Darüber hinaus widmete er sich mit Hingabe religionshistorischen Studien, deren materieller Ausdruck seine Bildrollen-Sammlung darstellt.

Richtig erschlossen, gewährt diese nicht nur Einsicht in vergangene, sondern auch in aktuelle japanische Glaubens- und Pilgerpraxis. Denn in der Gegenwart angekommen wird klar, dass die Amulette die Zeit überdauert haben, in alter und neuer Form, bis hin zu Miniaturtalismanen für die Schultasche oder fürs Auto – als Ausdruck der Sorgen, Hoffnungen und Wünsche modernen Lebens.

Ein Ausstellungs- und Publikationsprojekt in Kooperation mit dem Asien-Orient-Institut (Abteilung Japanologie) der Universität Zürich.


WegZeichen
Japanische Kult- und Pilgerbilder
Die Sammlung Wilfried Spinner (1854–1918)
28. November 2014 bis 17. Mai 2015