Wann ist ein Fisch "frisch"?

28. März 2011 Kurt Bracharz
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In einem Restaurant löste ich neulich angesichts eines mit dunklem Balsamico besprenkelten Matjesherings eine Diskussion aus, als ich sagte, es sei zwar eine Trottelei, einen Matjes mit Billig-Balsamico (also mit einem mit Zuckercouleur gefärbten Allerweltsessig) zu "würzen", aber da es eh kein "frischer Matjes" sei – den gibt es erst Ende Mai, Anfang Juni – , käme es darauf auch nicht mehr an.

Unsere Diskussion drehte sich dann um die Frage, ob ein Matjeshering überhaupt jemals "frisch" sei, da er nach holländischem Gesetz nach dem Fang sofort schockgefrostet werden muss. In den Niederlanden waren schon 1955 erste Erkrankungen beim Menschen durch "Fischwürmer" beschrieben worden, und 1967 zählte man 46 Fälle, woraufhin1968/69 eine "Haringverordering" beschlossen wurde. Der Erreger war damals wohl hauptsächlich der "Heringswurm" Anisakis simplex, ein aggressiverer Parasit als der viel weiter verbreitete Contracaecum aduncum, dessen Larven es kaum schaffen, sich ins menschliche Gewebe einzubohren. Diese beiden Würmer und der Dritte im Bunde, der vor allem im Pazifik verbreitete "Dorschwurm" Pseudoterranova decipiens, werden durch Schockfrosten verlässlich abgetötet. (Die toten Larven bleiben natürlich im Fischfleisch, wen es also schon davor graust, der muss zu Fisch aus Zuchten greifen, der aber vielleicht antibiotikabelastet ist.)

Das Schockfrosten geschieht heute bereits auf den Fang- und Verarbeitungsschiffen, die Ware wird binnen weniger Minuten auf – 20° C oder tiefer abgekühlt, was zur Folge hat, dass sich nur sehr kleine Eiskristalle in den Zellen bilden, deren späteres langsames Auftauen die Zellwände und die Zellorganellen nicht zerstört, so dass die Zellen nicht "auslaufen" und Enzyme von anderen Flüssigkeiten getrennt bleiben. Da der Zellinnendruck erhalten bleibt, wird die Ware auch nicht matschig. Manche Fischfilets, Krebstiere und Muscheln werden zusätzlich "glasiert", also vor dem Schockfrosten mit Eiswasser besprüht, das dann gefroren eine Schutzschicht gegen die Sauerstoffeinwirkung von außen und das Austreten von Wasser von innen bildet.

Was an scheinbar frischen Filets von Salzwasserfischen und an diversen Meerestieren angeboten wird, ist größtenteils vorher tiefgekühlt und wieder aufgetaut worden – "frischer" Meeresfisch kann hingegen nur geangelt, also nicht mittels Netz gefangen worden sein. Im Atlantik legen Fischer, die von relativ kleinen Booten aus mit der Langleine angeln, die gefangenen Fische sofort auf Eis und landen die Ware nachts an, wo sie an die Zwischenhändler versteigert und am nächsten Tag von Lastwagen mit modernen Kühlsystemen zum Händler/Gastwirt/Endverbraucher befördert wird. Wer den Unterschied am Fisch nicht merken würde, merkt ihn am Preis, der naturgemäß erheblich höher als der von TK-Ware sein muss.

Beim Süßwasserfisch ist klar, was ein "frischer" Fisch ist – einer, der erst vor kurzer Zeit gefangen oder getötet worden ist. Auch in "unseren" Fischen wie Felchen oder Zander kommen Parasiten vor, aber, wie bei den Meeresfischen, hauptsächlich in den Eingeweiden, weshalb alle Fische sofort ausgenommen werden sollen; tut man das nicht, wandern die Wurmlarven ins Fischfleisch hinüber. Bei Zubereitungsarten über 70 °C Kerntemperatur werden sie aber auch verlässlich abgetötet. Eigentlich kann es nur noch mit rohem Fisch, der nicht tiefgekühlt war, gesundheitliche Probleme geben – es empfiehlt sich also nicht, Sushi aus Süßwasserfischen zu machen, ohne das Fischfleisch durch Frosten, Beizen, Räuchern etc. zu behandeln (zum Beispiel werden auch die aus dem Meer stammenden Makrelen für Sushi gebeizt und kommen nicht wirklich roh auf den Reis). Übrigens ist auch der meiste Räucherlachs, ob von Wild- oder Zuchtlachs, ursprünglich schockgefrostet worden, wenn das auch in der Werbung nicht erwähnt wird, wo zumindest der Wildlachs als ganz besonders "natürlich" hingestellt wird.

Die Matjes-Dikussion hätte ich mir übrigens ersparen können, wenn ich gleich das richtige Wort "neu" statt des "frisch" gebraucht hätte; so heißt der Fisch, den ich meinte, nämlich: "nieuwe matjes". Den das ganze Jahr über erhältlichen, künstlich fermentierten Matjessorten ist er geschmacklich himmelweit überlegen, schockgefrostet hin oder her.