Walter Jonas. Maler, Urbanist und Wegbereiter

Walter Jonas (1910-1979) gehörte zu den unumgänglichen Figuren der Zürcher Kunstszene der 1940er-Jahre. Mit vielfältigen Talenten begabt, arbeitete er als Maler, Zeichner, Schriftsteller und Urbanist. Jonas, in Oberursel / Taunus geboren, verbrachte seine Kindheit und Jugend in der Schweiz, bevor er sich an der Reimann-Schule Berlin bei Moritz Melzer zum Maler ausbilden liess. Geprägt vom deutschen Expressionismus und dem Aufenthalt im avantgardistischen Paris der frühen 30er Jahre, lebte Jonas ab 1935 in Zürich.

Friedrich Dürrenmatt traf ihn im Jahr 1942 und besuchte ihn danach regelmässig in seinem Atelier – einem Ort, der zu einem Treffpunkt für die bewegte Kunst- und Literaturszene dieser Zeit wurde. Das "Buch einer Nacht" (1943), das aus Radierungen von Jonas und Dichtungen von Dürrenmatt besteht, ist das Resultat einer intensiven Zusammenarbeit der beiden Kunstschaffenden. Zum ersten Mal ist diese Arbeit nun öffentlich in einer Ausstellung zu sehen.

Walter Jonas setzte sich mit unterschiedlichen Stilrichtungen und Genres auseinander. Die Ausstellung akzentuiert das Porträtschaffen: Jonas offenbart ein einfühlendes und fragendes Sehen ins Innere seines ihm Modell sitzenden Gegenübers. Dadurch erreicht er eine hohe künstlerische Aussage, welches das Betrachten der Leinwand zu einer Begegnung von Mensch zu Mensch werden lässt.

Walter Jonas war in erster Linie Maler, aber er war auch interessiert an Fragen der gesellschaftlichen Entwicklung, an Umwelt und Technik. Er reiste viel, unter anderem in Indien und Brasilien, wo er sich mit den Problemen des städtischen Lebensraums auseinandersetzte. Er entwickelte in einem geradezu visionären Sinn Intrapolis, ein futuristisches und spektakuläres Wohnprojekt in Trichterform, das seinem Erschaffer in den 1960er-Jahren internationale Beachtung und Bekanntheit eingebracht hat. Mit Architekturmodellen, Zeichnungen, Fotografien würdigt das Centre Dürrenmatt Jonas Beitrag zur Urbanistik.

Wie in der Ausstellungen zu Varlin (1900-1977) im Jahre 2005 und Hanny Fries (1918-2009) im Jahre 2009 interessiert sich das Centre Dürrenmatt für den "Kreis" der Künstler, die mit Dürrenmatt in Verbindung standen, insbesondere auch für jene, die während und nach dem Krieg das Zürcher Kulturleben prägten. Denn zu jener Zeit war die Stadt der Zufluchtsort vieler Intellektueller, Schriftsteller und Künstler – Zürich galt damals als eine der europäischen Hauptstädte der Kultur.

Im vielseitigen Werk von Walter Jonas nimmt das Porträtschaffen eine wichtige Stellung ein. Gelernt hat Jonas das Porträtieren bei Moritz Melzer (1877-1966) an der Reimann-Schule Berlin. Diese wurde 1902 gegründet und wuchs in den 1930er Jahren zur grössten privaten Kunstschule Deutschlands heran. Melzer, Gründungsmitglied der politisch-reaktionären "Novembergruppe", legte grossen Wert auf die Entwicklung einer eigenen künstlerischen Position. Er leitete seine Schülerinnen und Schüler an, "die Natur zu studieren, die aufgenommenen Eindrücke aber zugleich innerlich zu verarbeiten, um zu freier, schöpferischer Tätigkeit vorzustossen. […] Grosse Bedeutung legte er der Komposition, der Gestaltung des harmonisch rhythmischen Farbraumes und der freien plastischen Formung bei."

Nach Abschluss der Reimann-Schule bildete sich Jonas in Paris im persönlichen Umfeld von Robert Delaunay, Fernand Leger, Otto Freundlich und Le Corbusier weiter und entwickelte seinen "Expressionismus eigener Prägung". Während das Porträt von Hans Storck (1962) in seiner exakten Zeichnung und der harmonischen Farbgebung eher klassisch anmutet, weicht man vor dem Bild "Die Schizophrene" (1931/1932) unwillkürlich zurück: Die leichte Untersicht der Darstellung lenkt den Blick über das helle, unruhig gemusterte Kleid auf das kantige Gesicht und lässt ihn an den stechenden, ins Leere blickenden Augen abprallen. Verstärkt durch die sich vom schwarzen Bildgrund abhebende, wolkenförmige Aura, welche Gesicht und Oberkörper noch deutlicher hervortreten lässt, wird der Betrachter Zeuge eines erschütternden seelischen Dramas und bleibt – da ihm jegliche Anteilnahme verwehrt ist – umso betroffener zurück.

Wiederholt hat sich Walter Jonas selber abgebildet. "Untergrund und Ausgangspunkt ist immer", so schreibt sein Freund Werner Y. Müller, "der chaotische und explosive Zustand seiner Seele", und er bezeichnet Jonas als "Meister der raschen Inszenierung." Im Selbstporträt von 1962 betonen die wilden Pinselstriche, die Spuren des nassen Farbauftrags und die schemenhaft-skizzenartige Umrandung des Oberkörpers die Materialität der Darstellung; der Künstler präsentiert sich, die Malpalette in der Hand, als Inkarnation seines Metiers. Von dem er sich gleich wieder distanziert: Die präzise, ebenmässige Zeichnung des Gesichts und der sinnende Blick offenbaren die vielschichtige und weitsichtige Persönlichkeit des Denkers, dem die Kunst der Erkenntnis dient.

Friedrich Dürrenmatt lernte Walter Jonas 1942 kennen. Das Atelier des Künstlers wurde zu einem Treffpunkt von künstlerisch und intellektuell Schaffenden (Zoltán Kemény, Karl Kerényi, Dieter Roth, Zoran Music, François Bondy, Lajser Ajchenrand, Alfred Baum, Fritz Hochwälder…) verschiedener Länder, die sich teilweise kriegsbedingt in Zürich aufhielten. Hier bot Jonas auch dem jungen Friedrich Dürrenmatt ein kulturelles Refugium. Dürrenmatt erkennt im gut zehn Jahre älteren Künstler eine geistige Hebamme: Nicht primär als Maler hat er ihn angeregt, sondern als Gesprächspartner, als kreativer Intellektueller, als literarischer Vermittler. Jonas machte ihn vertraut mit Autoren von Cocteau bis Joyce, insbesondere aber mit den deutschen Expressionisten, mit Georg Heym, Franz Kafka und Bertolt Brecht: Die beiden letzteren sollten sich dann zu jenen Grössen entwickeln, an denen sich Dürrenmatt als Erzähler rieb, an denen er auch ein Leben lang gemessen wurde.

Jonas und Dürrenmatt führen in der Nacht vom 13. auf den 14. Januar 1943 gemeinsam mit dem Kunstkritiker Werner Y. Müller ein Experiment durch, dessen Resultat das Buch einer Nacht ist. Jonas zeichnete und radierte, während Dürrenmatt seine zehn Gedichte komponierte und radierte. Gleichzeitig verfasst Müller einen Kommentar. Die Bilder und Texte sind teilweise parallel und unabhängig voneinander entstanden: Manchmal ging der Text voran, manchmal das Bild, oft wurde auch während des Zeichnens auf den inzwischen vorgetragenen Text reagiert. Letztendlich wurde das Gemeinschaftswerk nicht publiziert, die Auflage beschränkte sich auf drei Abzüge, die die drei beteiligten Freunde je für sich behielten.

Jonas und Dürrenmatt liessen sich wenig später auf ein weiteres Projekt zum Gilgamesch-Epos ein. Hier traten aber die unvereinbaren Grundauffassungen, die sich schon im Buch einer Nacht abzeichneten, deutlicher zu Tage. So realisierte Jonas eine Serie von 20 Radierungen mit Begleittexten, während von Dürrenmatt zwei Szenen-Entwürfe erhalten sind. In der Ausstellung können somit diese unterschiedlichen thematischen Annäherungen verglichen werden.

Die Idee der Trichterstadt Intrapolis entsteht 1958 in São Paulo. Südamerika bringt Jonas die Erkenntnis, dass die krebsähnlich wachsenden Grosstädte mit ihren chaotischen Vorstädten und Slums zu menschenfeindlichen Labyrinthen degenerieren. Das komplexe Verhältnis zwischen Mensch und Erde, zwischen Urbanität und Natur führt Jonas zur Frage nach der conditio humana. Fortan arbeitet er unermüdlich an der Vision für eine menschenwürdige Lebensweise. Das Ergebnis heisst Intrapolis. Die Grundidee entlehnt Jonas der Natur: die Form einer Blüte oder Trichters.

Der Unruhe des modernen Grosstadt-Daseins setzt die Idee der Intrapolis eine introvertierte Lebensweise entgegen. Während der Grossteil traditioneller Wohnungen extravertiert, nach aussen gerichtet ist, öffnen sich die Intrapolis-Wohnungen nach innen - analog zu den bekannten Vorbildern der Piazza und der Agora. Durch diese Bauweise bleiben die Wohnungen von Immissionen wie Abgasen und Verkehrslärm verschont. Die Sorgen um die Entwicklungsländer und um den ökologischen Zustand der Erde beunruhigen Jonas. Pläne für schwimmende Städte auf Seen, Fjorden oder Meeresbuchten entstehen, die weitgehend resistent gegen Auswirkungen von Erdbeben und Tsunamis sind. 1971 sollen im Ruhrgebiet drei mit Brücken verbundene Intrahäuser entstehen; eine andere Siedlung für 200 000 Einwohner soll in der Nähe von Hamburg gebaut werden. Doch der Widerstand der ansässigen Architekten und die Ablösung der Regierung von Willy Brandt im Jahre 1974 verhindern die Realisierung. - Auch wenn die Intrapolis in der von Jonas entwickelten Konzeption bis heute nie gebaut wurde, findet die Form in verschiedenen Varianten Eingang in die moderne Architektur (kanadische Pavillon an der Weltausstellung in Montreal 1967, Les Halles in Paris von Claude Vasconi 1979, der Pavillon Chinas an der Weltausstellung 2010 in Shanghai).

Inzwischen haben das Deutsche Architekturmuseum DAM in Frankfurt (1986), die Fondation Beyeler in Riehen/Basel (2004), das Guggenheim Museum in Bilbao (2005), die Nationalgalerie im Hamburger Bahnhof (2012) in Berlin die Intrapolis in grösseren Darstellungen thematisiert. Allein 2011 sind drei Publikationen zum Thema der Intrapolis erschienen. Das Projekt der Intrapolis hat bis heute nichts an Aktualität und Faszination eingebüsst.

Walter Jonas. Maler, Urbanist und Wegbereiter
22. April bis 15. Juli 2012