Walid Raads Arbeiten – Textanalysen, Videos, Performance und Fotografieprojekte – setzen sich vor allem mit den Libanonkriegen, den arabisch-israelischen Konflikten, der Theorie und Praxis des Dokumentarischen auseinander. Sie untersuchen die politisch motivierte Konstruktion von Geschichte und die Verbindungen zwischen Politik und Repräsentation.
Diese Ausstellung (sie ist die erste Einzelpräsentation des Künstlers in Österreich) baut auf die Methode seines Projekts "The Atlas Group" auf, in dem er seit 15 Jahren die sozialen, politischen, psychologischen und ästhetischen Bedingungen der Libanonkriege untersucht. Dieses neue Projekt markiert eine klare Wegscheide in Raads Schaffen: Eine Entfernung von der "Atlas Group" bei gleichzeitiger Erweiterung ihres historischen und theoretischen Bezugrahmens.In den späten 1980er Jahren, mitten in den "heißen" Libanonkriegen, verschrieb sich Walid Raad über der Produktion von Fotografien in Beirut. Er gab diesem Vorhaben den Titel "Sweet Talk" und bezeichnete die fotografischen Aufträge, die er selbst erteilte, als "Commissions". In ihrem Zentrum standen die BewohnerInnen, Gebäude, Straßen, Ladenfronten, Gärten sowie andere Gegenstände, Situationen und Räume von Beirut.
Prägend für das Projekt war aber auch das Ende der Libanonkriege im Jahr 1989. 1992 hatte sich die Sicherheitslage in Beirut so weit gebessert, dass große Teile der Stadt für ihre BürgerInnen wieder in einer Art und Weise zugänglich wurden, wie es seit 17 Jahren nicht mehr der Fall gewesen war. Bald darauf wurde auch mit dem Wiederaufbau des zerstörten Stadtzentrums begonnen, was innerhalb wie außerhalb des Libanon die Hoffnung nährte, das Land könne sich wieder aus den Trümmern erheben. Leider ist es dazu nie gekommen. Vielmehr haben sich neue Trümmer auf die alten gehäuft, ist weiteres Blut geflossen und die Verzweiflung gewachsen angesichts der nicht enden wollenden Übergriffe und Invasionen der Israelis, der Verstärkung von Syriens politischem, militärischem, ökonomischem und geheimdienstlichem Würgegriff, der immer neuen Lähmung der Stadt durch die unzähligen Bombardierungen und Attentate, der Verdichtung des latenten Gestanks politischer und sozialer Zwietracht, der bis heute die Luft verpestet, die wir atmen.
Die 1987 begonnenen und immer noch fortgeführten selbst erteilten Aufträge bestehen jeweils aus Hunderten Negativen und Digitaldateien und wurden in Zeiträumen produziert, die von wenigen Wochen bis zu mehreren Monaten dauerten. Dennoch sind sie weniger durch ihr Produktionsjahr bestimmt als vielmehr durch die ihnen zugrunde liegenden formalen, technischen und konzeptuellen Parameter. Ursprünglich wollte Raad einfach nur Bilder in einer Stadt machen, die sich inmitten eines radikalen urbanen, ökonomischen, politischen und sozialen Umbruchs befand. Mit der Zeit fiel es ihm aber immer schwerer, von den Bildern Abzüge zu fertigen und sie auszustellen. Es wurde ihm klar, dass die von ihm aufgenommenen Bilder immer weniger auf die Personen, Situationen, Gegenstände und Räume referierten, die er im Moment der Belichtung vor der Linse gehabt hatte.
Es kam etwa vor, dass er menschenbelebte Straßen fotografierte, die in den fertigen Bildern als leer erschienen; offene Geschäftslokale, die als geschlossen, Gesichter, die als Rückenansichten erschienen. In einigen Fällen erwies sich das Foto eines Gebäudes in einem bestimmten Stadtteil zugleich als ein Foto von zwei architektonisch ganz anderen Gebäuden in zwei anderen Stadtteilen. Anfangs verwarf Walid Raad derlei Dinge als konzeptuelle Verstiegenheiten, als lediglich eine weitere langweilige Reflexion über das Vermittlungsvermögen der Fotografie. Allerdings kam er nie los von dem Gedanken, dass in Beirut etwas Ungewöhnliches vor sich ging. Raad musste ständig an die Möglichkeit denken, dass sich die Personen, Straßen, Gebäude und Ladenfronten, die er fotografierte, vielleicht nicht im Einklang mit der Zeit der Fotografie befänden. Schließlich gelangte Raad zur Überzeugung, dass bei einem Gebäude in Beirut eine Belichtungszeit von wenigen Sekundenbruchteilen einer Belichtungszeit von sieben Jahrzehnten an jedem anderen Ort entspricht. In Beirut bewegte sich alles so rasend schnell, dass Walid Raads Verschlussgeschwindigkeit nicht mithalten konnte.
Während der letzten beiden Jahrzehnte hatte er ununterbrochen dokumentiert, auch wenn das von tiefen Zweifeln bezüglich dessen begleitet war, was er da eigentlich dokumentierte. Raad begnügte sich einfach mit einer Praxis, die Beirut für die Nachwelt festhalten sollte. Zur selben Zeit – und ganz unabhängig von ihm – erschuf sich der Schriftsteller Jalal Toufic in seinem Buch "Forthcoming" einen Mitarbeiter – ein Double in Form eines Fotografen –, der "die Dinge in der Geschwindigkeit des Krieges" sieht. Toufics Buch beschreibt auch den scheinbar sinnlosen Aufzeichnungszwang, dem er instinktiv und mitunter verzweifelt seit nunmehr über zwanzig Jahren folge: "Wir müssen einfach Fotos machen, selbst wenn sie aufgrund des Verschwindens ihrer Referenten und bis zur Wiedererstehung derselben nicht als referenzielle Dokumentaraufnahmen zu gebrauchen sind – und selbst auf die Gefahr hin, dass dadurch thematische Facetten als rein formale missverstanden werden könnten."
Durch die zufällige Begegnung mit dem Fotografen Toufics, aber auch mit anderen nicht minder inspirierenden KünstlerInnen und SchriftstellerInnen, Konzepten und Formen kann Walid Raad heute Dutzende Fotografien aus "Sweet Talk: Commission (Beirut)" in dieser Grazer Ausstellung zeigen. Diese Fotos bilden nur einen Bruchteil des laufenden Projekts. Sie dokumentieren nicht nur einige Räume und BewohnerInnen Beiruts aus den vergangenen zwanzig Jahren, sondern auch Formen, Linien und Farben, die durch die Stadt, ihre BewohnerInnen, ihre Räume und ihr Tempo geschaffen wurden, sowie Raads Suche nach den angemessenen fotografischen Mitteln, um sich mit ihnen auseinanderzusetzen.
Walid Raad - Sweet Talk: Commissions (Beirut)
29. Jänner bis 5. April 2010
Eröffnung: Do 28. Jänner 10, 18 Uhr