Vorschau auf das 67. Filmfestival von Locarno

17 Filme werden im Wettbewerb des 67. Filmfestivals von Locarno (6. – 16.8. 2014) um den Goldenen Leoparden konkurrrieren. Dürfte hier eigenwillige Filmkunst den Ton angeben, so wird auf der prächtigen Piazza Grande Unterhaltung groß geschrieben. Stark vertreten ist wie gewohnt die Schweiz, aber auch am Auflauf internationaler Stars wird es nicht mangeln.

Eröffnet wird das Festival am Lago Maggiore mit Luc Bessons "Lucy", in dessen Mittelpunkt eine Drogenkurierin steht, die übermenschliche Kräfte entwickelt, nachdem versehentlich eine große Menge Drogen in ihren Kreislauf geraten ist.

Nachdem Besson sich in den letzten Jahren vorwiegend nur als Produzent von Actionfilmen wie "Brick Mansions" oder der "Transporter"-Serie engagiert hat, selbst aber Regie bei Kinderfilmen wie "Arthur und die Minimoys" oder dem Biopic "The Lady" geführt hat, scheint er mit diesem mit Scarlett Johansson und Morgan Freeman hochkarätig besetzten Film an seine frühen Arbeiten wie "Nikita" anknüpfen zu wollen.

Breit gespannt ist der Bogen des Piazza-Programms, gemeinsam dürfte den Filmen aber sein, dass Unterhaltung dabei nicht zu kurz kommen soll. Das gilt für Lasse Hallströms "The Hundred-Foot Journey – Madame Mallory und der Duft von Curry", mit dem der in Amerika arbeitende Schwede wie schon in "Chocolat" um kulinarische Genüsse herum ein Feelgood-Movie über die Läuterung von Menschen erzählen dürfte, ebenso wie für den Abschlussfilm "Geronimo", in dem Tony Gatlif eine Art "West Side Story" im Roma-Milieu erzählt.

Während Locarno-Stammgast Eran Rilis in "Dancing Arabs" wie schon in "The Syrian Bride" und "The Lemon Tree" auf israelisch-palästinensische Spannungen und Identitäten blickt, legt Jasmila Zbanic mit "Love Island" erstmals eine Komödie vor. Eine solche ist auch von Peter Luisis "Schweizer Helden" zu erwarten, während der Franzose Jean-Pierre Améris in "Marie Heurtin" die Geschichte einer Ende des 19. Jahrhunderts blind und taub geborenen Frau erzählt. Neben Améris neuem Film, "Lucy" und "Geronimo" läuft als vierter französischer Piazza-Beitrag "A la vie", in dem Jean-Jacques Zilbermann das Leben seiner Mutter, die Auschwitz überlebt hat, erzählt.

Unter sich machen sich so praktisch weitgehend Frankreich, die Schweiz, die neben Luisis Film auch mit Olivier Assayas´ im Engadin spielendem "Sils Maria" und Mathieu Urfers Komödie "Pause" vertreten ist, und Deutschland, das Florian Mischa Böders schräge Killergeschichte "A Hitman´s Solitude Before The Shot" und Christian Züberts Tragikomödie "Hin und weg", in der fünf Freunde zu einer Fahrradtour nach Belgien aufbrechen, weil dort die Sterbehilfe erlaubt ist, das Piazza-Programm aus.

Abgerundet wird das Angebot an neuen Filmen durch die Präsentation von Agnès Vardas Essayfilm "Les plages d´Agnès", der aus Anlass der Verleihung des Ehrenleoparden an die 86-jährige Französin läuft, sowie durch Luchino Viscontis Meisterwerk "Il gattopardo", das im Rahmen der großen Retrospektive zur italienischen Produktionsfirma Titanus gezeigt wird.

Während auf der Piazza damit Europa den Ton angibt, lädt der Wettbewerb zu einer filmischen Reise um die Welt, aber vermutlich auch durch vielfältige filmische Formen ein. Der Westschweizer Fernand Melgar blickt in seinem Dokumentarfilm "L´abri" auf eine Notschlaftstelle in Lausanne, an deren Toren jeden Abend zahlreiche Bedürftige abgewiesen werden, obwohl die Unterkunft Plätz böte. Locarno-Siegerin Andrea Staka ("Das Fräulein") setzt sich dagegen in ihrerm Spielfilm "Cure – The Life of Another" mit den Traumata, die der Jugoslawienkrieg auslöste, auseinander.

Das unabhängige amerikanische Kino ist mit Alex Ross Perrys "Listen Up Philip" und J.P. Sniadeckis "The Iron Minstry" vertreten, der bekannteste Name im Wettbewerb ist aber der Philippino Lav Diaz, der letztes Jahr in Locarno der Jury angehörte, und heuer im Wettbewerb „Mula Sa kung ano ang noon“ zeigt – hinsichtlich der Länge auf jeden Fall schon mal ein typischer Film dieses Regisseurs: 338 Minuten.

Überhaupt wird die eher niedrige Zahl von 17 Wettbewerbsfilme durch die Länge mehrerer Filme wieder wettgemacht. Diaz ragt mit seinem Fünfeinhalb-Stünder zwar heraus, aber auch der Südkoreaner Park Jumbum bringt es bei seinem "Alive" auf stattliche 179 Minuten.

Bekannt für formal eigenwillige Filme sind neben Diaz auch der Portugiese Pedro Costa, der mit "Cavalo Dinheiro" eingeladen wurde, und der Franzose Eugène Green, der "La sapienza" ins Leopardenrennen schickt.

Ob freilich die fünfköpfige Jury, der neben dem letzten Biennale-Sieger Gianfranco Rosi und dem heurigen Berlinale-Sieger Diao Yinan sowie dem deutschen Regisseur Thomas Arslan die Schauspielerinnen Alice Braga und Connie Nielsen angehören ähnlich radikale Preis-Entscheidungen wie die Juries der letzten Jahre treffen wird, bleibt abzuwarten.

Raum für die Entdeckung aufstrebender Regisseure und höchst eigenwilliger filmischer Erzählweisen bieten auch die 15 Debüts und Zweitlingsfilme in der Reihe "Cinéaste du Présent" und auch die neu geschaffene Sektion "Signs of Life" widmet sich den Grenzgebieten des Kinos – zwischen neuen Erzählformen und innovativen Ausdrucksweisen. Im Zeichen des Nachwuchs steht dagegen wie gewohnt die Sektion "Pardi di domani", in der kurze und mittellange Filme von unabhängigen Autoren und Studierenden von Filmhochschulen vorgestellt werden.

Blick zurück auf die Filmgeschichte öffnet die schon erwähnte Retrospektive für das 1904 in Neapel gegründete italienische Produktionshaus Titanus. Die Retrospektive legt den Fokus zwar auf die goldene Produktionszeit von 1945 bis 1965, aus der Klassiker von Fellini, Antonioni, Rosi und Olmi, Komödien von Luigi Comencini, aber auch Sandalen- und Horrorfilme gezeigt werden, spannt aber insgesamt den Bogen doch von der Stummfilmzeit bis zu Giuseppe Tornatores 2010 gedrehtem "L`ultimo gattopardo".

Aber auch die Verleihung der Ehrenpreise bietet Anlass mit einer Auswahl von Filmen Einblick in das Werk der Ausgezeichneten zu bieten. Dies betrifft nicht nur Agnès Varda, die den Ehrenleoparden erhält, sondern auch die Hongkonger Produzentin Nansun Shi, die mit dem Premio Raimondo Rezzonico geehrt wird, Juliette Binoche (Excellence Award Moët & Chandon), den Kameramann Garrett Brown (Vision Award – Nescens), Armin Müller-Stahl (Lifetime Achievement Award–Parmigiani), Mia Farrow (Leopard Club Award) und den spanischen Regisseur Victor Erice, der mit dem "Pardo alla carriera" ausgezeichnet wird.

Einblick in das aktuelle Schweizer Filmschaffen vermittelt schließlich die Sektion "Panorama", in der neben Sabine Boss´ Erfolgsfilm "Der Goalie bin ig" beispielsweise auch Petra Volpes großartiger "Traumland" oder Christian Freis Dokumentarfilm "Sleepless in New York" entdeckt werden können.

Und auch in der "Semaine de la critique", in der wie jedes Jahr sieben Dokumentarfilme präsentiert werden, ist die Schweiz mit drei Produktionen stark vertreten: Marcel Gisler zeichnet in "Elektroboy" das bewegte Leben des Schweizer Florian Burkhardt nach, Stéphanie Barbey und Luc Peter dokumentieren in "Broken Land" das Leben an der Grenze zwischen USA und Mexiko und Paolo Poloni schildert in "Mulhapar" das Leben in einem pakistanischen Dorf.