Viel Flair, starker Eröffnungsfilm

21. September 2007
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Ein Festival lebt nicht nur von seinen Filmen, sondern auch vom Ambiente des Veranstaltungsortes. Das 55. Filmfestival von San Sebastian konnte am Eröffnungstag durch Beides begeistern: Unglaublich viel Flair hat die spanische Atlantikstadt und als sehr stark erwies sich David Cronenbergs neuer Thriller "Eastern Promises".

San Sebastian – oder baskisch Donostia – mag ja nicht im Zentrum Europas liegen und die Anreise ist umständlicher als nach Berlin, Cannes oder Venedig. Internationalen Flughafen besitzt die 200.000 Einwohnerstadt nicht und so muss man über Madrid anreisen. Immerhin bietet sich so beim Umsteigen auf dem Flughafen der spanischen Hauptstadt beim Warten in der langen Schlange vor der Passkontrolle die Gelegenheit Alfredo Knuchel anzusprechen, der nicht nur so wunderbare Dokumentarfilme wie "Halleluja! Der Herr ist verrückt" gedreht hat, sondern in San Sebastian auch für die Auswahl der deutschen, österreichischen, schweizer und niederländischen Filme zuständig ist. Da der Weg zwischen internationalem und nationalem Terminal weit ist, erreichen Herr und Frau Knuchel sowie Herr Gasperi nur knapp den Anschlussflug.

Kaum hat Herr Gasperi aber in der startbereiten Maschine Platz genommen, wird er schon wieder aufgerufen, da sich in seinem Gepäck etwas bewege. Diese Unannehmlichkeit – der Rasierapparat hatte sich selbstständig eingeschaltet – hat aber auch wieder einen Vorteil. Denn durch den Aufruf identifiziert Herr Knuchel Herrn Gasperi, spricht ihn am Flughafen von San Sebastian nun seinerseits an und macht ihn darauf aufmerksam, dass er die Kultur-online Vorschau schon an die Presseabteilung des Festivals geschickt habe. – Einerseits erfreut es zu erfahren, dass dieses Medium international, speziell in der Schweiz, offensichtlich doch stark wahrgenommen wird, andererseits fährt Herr Gasperi nun aufgrund des Kontakts nicht mit dem Bus, sondern mit Herr und Frau Knuchel mit einer Festivallimousine in die Stadt.

Schon beim Anflug begeistert San Sebastian durch die Lage an zwei Atlantikbuchten. Mit der aus der Ferne wahrzunehmenden traumhaften Lage ist es aber nicht getan. Auch sonst vermittelt diese Festivalstadt viel Flair, verbindet Arbeitswelt und Fremdenverkehrsstadt, Altes und Modernes und verlängert den Sommer in den Herbst. Der Altstadt mit engen Gassen, Bars an jeder Ecke und stilvollen Bauten aus dem 19. Jahrhundert steht der von Rafael Moneo geplante moderne Kursaal, in dem sich das Pressezentrum des Festivals befindet, gegenüber. Und neben dem Filmfestival findet gleichzeitig ein Surf-Wettbewerb statt, für den die Teilnehmer schon um acht Uhr morgens bei noch frostigen 12 Grad Lufttemperatur in Neoprenanzügen auf den Wellen vor der Küste trainieren. - Die die Hausfassaden in warmes Gelb tauchende aufsteigende Sonne verspricht aber schon einen angenehm warmen Tag.

Der Festivalbetrieb ist zu dieser Uhrzeit noch nicht im Gange, dennoch öffnen hier mit halb Neun früher als andernorts die Festivalbüros und nur am Eröffnungstag ist die erste Vorführung mit David Cronenbergs "Eastern Promises", der mit der Empfehlung des Publikumspreises des Festivals von Toronto nach San Sebastian kommt, auf elf Uhr angesetzt.

Mit einer extrem brutalen Szene beginnt dieser in London spielende Thriller. Während ein Angehöriger der Russenmafia einem Gegner die Kehle durchschneidet, gebärt eine junge Russin ein Kind. Weil die Mutter bei der Geburt stirbt, beginnt die Krankenschwester Anna mittels des Tagebuchs der Toten über ihre Herkunft und Familie zu recherchieren. Dabei gerät Anna in die Kreise der Russenmafia.

Es gibt nur wenig Gewaltszenen in Cronenbergs Film. Diese – speziell ein Kampf gegen Ende – sind dafür so brutal, dass sich über den ganzen Film ein Klima der Gewalt legt. Dies liegt aber auch an David Cronenbergs stringenter und konzentrierter Inszenierung. Moralisiert wird dabei nicht, die Gewalt erscheint - wie schon in "A History of Violence" als Selbstverständlichkeit, als Grundkonstante der condicio humana.

Cronenberg geht es um etwas anderes. Verpackt in einen perfekt gespielten und inszenierten, in dunkle Farben getauchten Thriller stellt er zwei Milieus gegenüber und reflektiert im Grunde über die Familie. Konsequent stellt er der kleinbürgerlich-biederen Konstellation Anna-Mutter-Onkel die russische Gangsterfamilie mit dem patriarchalischen Vater und einem unbeherrschten zu Gewaltexzessen neigenden Sohn gegenüber. Zwischenstellung nimmt dabei der von Viggo Mortensen gespielte Nikolai ein, der immer wieder erklärt "I am only the driver". – Neutral kann er freilich nicht auf Dauer bleiben und muss schliesslich Stellung beziehen.

Durch die Konzentration auf diese Dreierkonstellationen und die Auslotung der Beziehungen der Figuren entwickelt "Eastern Promises" seine Dichte, wobei der Subtext "Familie" durch die Situierung der Handlung zwischen Weihnachten und Neujahr und eine Schlussszene, die das Bild der "Heiligen Familie" zu zitieren scheint, noch intensiviert. – Perfektes Kino fürs grosse Publikum und gleichzeitig grosse Filmkunst mit Tiefgang: Cronenberg hat mit dem Eröffnungsfilm die Latte für das 55. Filmfestival von San Sebastian hoch gelegt.