Very Contemporary

Der Künstler Max Grüter entzieht sich jeder Zuordnung zu einer der klassischen Disziplinen. Er ist ein Forscher, ein freidimensionaler Denker und Entdecker, der das Abenteuer sucht und in unbekanntes Terrain vordringt. Sein in allen Richtungen offenes, vieldeutiges Werk entführt den Betrachter in ungesicherte Sphären, in denen sich Fragen der menschlichen Existenz, Träume und Selbstreflexion, subtiler Humor und künstlerische wie technologische Innovation immer neu miteinander verbinden.

Für Max Grüter, der in visueller Gestaltung, Malerei und Bildhauerei gleichermassen zuhause ist, hat sich der Computer als adäquates Werkzeug seiner künstlerischen Sprache erwiesen. Kaum ein anderer Künstler in der Schweiz beherrscht dieses zeitgemässe Werkzeug so meisterhaft wie Grüter, der mit jedem Projekt neue Türen öffnet, neue Wege geht.

In einem 3-D-Animationsprogramm modelliert er seine Figuren und Räume und nutzt die Abstraktion, die der Computer generiert, um damit figurativ zu arbeiten. Das Programm ist sein Material, und wie Ton, der vom Künstler physisch bearbeitet wird, ist es der Interpret der Vorstellungen des Künstlers und nimmt die Form an, die dieser ihm gibt. Der Körper, von dem er ausgeht, ist immer ein Würfel oder Quader, den er in eine organische Form transformiert. In einem langwierigen, detaillierten Prozess formt er Gesichter, Hände, gibt der Figur einen Ausdruck, eine Oberflächentextur, eine physische Präsenz und eine Persönlichkeit. "Die grosse Herausforderung für mich ist es," sagt er, "dem Computer Realität, Sinnlichkeit und Beseeltheit abzuringen".

Wenn die Figur gefunden ist, und er das Basismodell seines Protagonisten hergestellt hat, bekommt dieser an ausgewählten Stellen Gelenke, die ihn beweglich machen. Damit wird der Bildhauer zum Regisseur, der seine Figur inszeniert, ihre Haltung bestimmt und sie in eine Situation oder in eine Folge von Aktionen setzt. Ob dann aus dem dreidimensionalen Objekt ein Siebdruck wird, eine Skulptur oder Malerei, entscheidet Max Grüter
intuitiv.

Sein Ansatz durchbricht den traditionellen Skulpturbegriff, indem er der Raumdimension der Skulptur den Faktor Zeit hinzufügt. Manche Skulpturen sind seriell, andere sind mehrteilig, wie der Taucher zum Beispiel, der in vier Phasen versinkt – allerdings nicht im Wasser, sondern im Boden. Eine irritierende Geschichte entsteht. Oder sie sind Stills, angehaltene Aktionen, aus dem Zeitkontinuum ausgeschnittene Augenblicke des Nachdenkens. Der Künstler als Kampfpilot etwa, in voller Montur, geschützt und abgeschirmt, mit ausgestrecktem Arm, den Pinsel in der einen Hand, in der anderen den Auslöser für den Schleudersitz, allzeit bereit, den künstlerischen Akt zu vollziehen und alles auf eine Leinwand zu setzen. In dieser eingefrorenen Geste steckt ein Humor der Verzweiflung, der Roman Signers Aktion "Punkt" seelenverwandt ist. Signer sitzt in ähnlicher Körperhaltung wie Grüters Figur auf einem Stuhl vor der Staffelei, während eine Lunte abbrennt, bis das Erschrecken über die Explosion seine Hand mit dem Pinsel einen Punkt auf die Leinwand setzen lässt.

Wenn Max Grüter eine Figur malerisch weiterentwickelt, projiziert er den am Computer modellierten und inszenierten Prototypen direkt auf die Unterlage und malt ihn. Die Bildkomposition ist bereits am Computer gemacht, und die Konzentration des Künstlers richtet sich ganz auf die Neuinterpretation der Projektion durch den Vorgang des Malens. Seine neuen Bilder sind Kombinationen von Malerei mit Siebdruck und Lasertechnik. Max Grüter nennt sie "Backups", weil sie auf die Rückseiten von gebrauchten und ausrangierten Bilderrahmen der Zürcher Kunstgesellschaft gemalt sind, die immer noch Spuren der Werke berühmter Künstler tragen, die sie einmal beherbergten.

Der Protagonist dieser Bildobjekt-Cluster ist ein Meerschweinchen. Nackt, liegend, gekrümmt und eingesperrt schaut es mit grossen Augen den Betrachter an. Grüter: "Die Figur ist schillernd. Man hält sich heute Kunst als Haustier. Als Künstler bin ich manchmal in der Rolle des Meerschweinchens. Man wird in eine Schublade gepackt und eingesperrt, auch wenn man sich allen Schubladen zu entziehen versucht. Aber wenn die Schublade gross genug ist, spielt das keine Rolle." Und machmal wird das Meerschweinchen auf dem Laserplot zum Meerschwein, zum riesigen, behaarten, röhrenden, erfrischend subversiven Monster, das sich – einmal mehr – über alle Zuordnung hinwegsetzt.
Barbara Liebster

Max Grüter - Very Contemporary

26. August bis 2. Oktober 2010