Variation und Improvisation

Bild gewordener Jazz im besten Wortsinn, das ist das gleichnamige Mappenwerk des französischen Malers, Grafikers und Bildhauers Henri Matisse (1869 – 1954): Eine farbenprächtige Bildschöpfung voll mitreißender farbiger Rhythmen und ungestümer Harmonien. Sie ist ab Anfang April im Stadtmuseum Lindau zu sehen, in Gegenüberstellung mit Matisse‘ zeichnerischem Werk! Henri Matisse gehört als Wegbereiter und Hauptvertreter des Fauvismus, jener ersten Avantgarde-Bewegung des 20. Jahrhunderts, zu den prägenden Künstlerpersönlichkeiten der Klassischen Moderne.

Im Zentrum der Lindauer Ausstellung steht mit den 20 Blättern der berühmten Mappe "Jazz" jedoch sein nicht weniger bahnbrechendes Spätwerk. Ihnen sind einleitend ausgewählte Originale aus verschiedenen Werkphasen vorangestellt, die das zeichnerische Schaffen des Künstlers beleuchten. Sie führen die Ausstellungsbesucher hin zur herausragenden Arbeit des späten Matisse, in der sein Werk sich auf großartige Weise vollendete. Die Ausstellung "Matisse: Variation - Improvisation" steht in der Reihe monographisch ausgerichteter Prä­sen­ta­tionen zur Kunst der Klassischen Moderne, die 2011 mit "Pablo Picasso – Meister­zeichnungen" ihren Ausgang nahm, gefolgt von Marc Chagall (2012) und Joan Miró (2013). Im Verbund lockten die großen Meister bislang über 180.000 Besucher ins Stadtmuseum.

Die große Innovation in Matisse‘ Alterswerk war die Erfindung der "gouache découpée", einer unkonventionellen Scherenschnitttechnik, die auch den Entwürfen für die Mappe "Jazz" zugrunde liegt: Von seinen Gehilfen ließ Matisse große Papierbögen mit leuchtenden Gouache-Farben kolorieren und schnitt aus diesen mit der Schere freihändig einzelne Formen und Figuren aus, die anschließend nach seinen Vorgaben zu mitunter monumentalen Collagen zusammengefügt wurden. Obgleich bereits über 70 Jahre alt und von Krankheit gezeichnet, war Matisse von ungebrochener Lebensfreude und unbändigem Schaffensdrang beseelt: Florale Ornamente, Akanthus-Blätter, Früchte, Algen und Mollusken, Sterne, Gräser, Vögel breiteten sich an den Wänden seines Ateliers aus und beherrschten fortan seine Bildwelt – ein ganzer Zaubergarten, in dem sich der zunehmend an Bett und Rollstuhl gefesselte Künstler frei bewegen konnte.

Erst in den nach seiner Erkrankung entstandenen Arbeiten zeige sich sein "wahres", sein "freies, befreites Selbst", bekannte Matisse. Frei im Geist und frei in der Kunst schuf er "Jazz" aus, wie er selbst bekannte, "kristallisierten Erinnerungen an den Zirkus, an Volksmärchen oder an Reisen". 1943 hatte er 74jährig mit der Arbeit an der Suite begonnen und aus farbenfrohen rhythmischen Zeichen einen rauschhaften Hymnus auf das Leben komponiert. Die Bedeutung von Improvisation und Variation rückt Matisse‘ künstlerischen Gestaltungsprozess dabei durchaus in die Nähe der namengebenden Musikform, wie der Pariser Verleger Tériade erkannte, der daraufhin den Titel für die Bildserie vorschlug. Tériade reproduzierte den Zyklus 1947 in enger Zusammenarbeit mit dem Künstler. Neben dem eigentlichen Künstlerbuch mit handschriftlich ergänzten Texten von Matisse erschien eine geringere Auflage ungebundener Mappen, die nur die zwanzig Bildtafeln, nicht jedoch den begleitenden Text enthielten. Eines dieser seltenen und gesuchten Druckwerke ist in Lindau ausgestellt.

Die brillante Farbwiedergabe ermöglichte die sog. Pochoir-Technik, ein äußerst aufwändiges und kompliziertes Druckverfahren mit einzelnen Schablonen für jede Farbe und Form. Diese mussten vor jedem Druckdurchlauf jeweils separat von Hand eingefärbt werden. Somit stellt im Endergebnis jeder Druck ein handgefertigtes Unikat dar, auch wenn es sich um Reproduktionen der Originalvorlagen handelt.

Die filigranen reduzierten Linienzeichnungen, die in Lindau ergänzend ausgestellt werden, stehen in reizvollem Kontrast zu den farbexpressiven energiegeladenen Form­ele­men­ten der Jazz-Suite. Zugleich stehen sie einander jedoch nahe, insofern sich hier wie dort Matisse‘ Streben nach der absoluten Einfachheit der Form zeigt, das sein gesamtes künstlerisches Schaffen prägt. In der „gouache découpée“ verbanden sich für ihn die Vorzüge von Zeichnung und Malerei, die zu vereinen er bis dahin vergeblich versucht hatte – die zeichnerische Linienführung, die der Schnitt mit der Schere ersetzte, und die Leuchtkraft der Farbe. So charakterisierte er das Verfahren selbst als "Zeichnen mit der Schere" oder "Malen mit der Schere".


Variation – Improvisation
Die Bilder der Suite "Jazz" und
Zeichnungen von Henri Matisse
5. April bis 31. August 2014