Unbändige Lust am filmischen Experiment: Agnès Varda

Mit ihrem Debüt "La Pointe Courte" wurde Agnès Varda 1954 zur Vorreiterin der Nouvelle Vague. Nie ließ sich die ausgebildete Fotografin in ein Schema pressen, experimentierte immer wieder mit Erzähltechniken, changierte zwischen Spiel- und Essayfilm, vermischte dokumentarische Szenen mit poetischen und thematisierte immer wieder die Rolle der Frau. Das Filmpodium Zürich widmet Varda anlässlich ihres 90. Geburtstags am 30. Mai und des Starts ihres neuen Films "Visages Villages – Augenblicke: Gesichter einer Reise" eine Retrospektive.

Oft wird die Nouvelle Vague auf die vormaligen Kritiker der Cahiers du Cinema Godard, Truffaut, Rivette und Rohmer reduziert, doch daneben gab es eben auch noch die Gruppe des sogenannten Rive gauche um Alain Resnais, Chris Marker, Marguerite Duras und Agnès Varda. Während Godard und Co. sich immer wieder auf das Kino bezogen und darüber in ihren Filmen reflektierten, wurden die Filme des Rive gauche stärker von anderen Künsten wie der Literatur oder der Fotografie beeinflusst.

Von letzterer kam auch die am 30. Mai 1928 in Brüssel geborene Varda. Vor dem Krieg floh ihre Familie 1940 in die südfranzösische Kleinstadt Sète. Nach Schulabschluss studierte Agnès Varda dann an der Sorbonne Literatur, ehe sie eine Fotografenlehre machte. Das dokumentarische Arbeiten, das sie als Fotografin für das Pariser Théâtre National Populaire und fotojournalistische Aufträge in Chana, Afrika, den USA und der UdSSR lernte, prägte auch ihre Filme.

Mit eigenem Geld finanzierte sie 1954 ihren ersten Spielfilm "La Pointe Courte“, der sie auch in Nähe von Séte und damit die Gegend ihrer Jugend zurückführte. Dokumentarisch schildert Varda darin Alltag und Arbeit der von den echten Bewohnern gespielten Fischer, deren Existenz bedroht ist, verknüpft damit aber die fiktive Geschichte eines Paares in einer Krise.

Mehrere Kurzfilme entstanden zwar in den folgenden Jahren, aber den nächsten großen Kinofilm drehte sie erst sieben Jahre später mit "Cléo de 5 à 7 ("Mittwoch zwischen 5 und 7", 1962). Auch diesen Film zeichnet die Verbindung von Dokumentarischem und Fiktivem aus, wenn Varda vor der Stimmung des abendlichen Paris in Echtzeit von einer Frau erzählt, die das zweistündige Warten auf einen medizinischen Befund über ihr bisheriges Leben reflektieren lässt.

Im Gegensatz zu diesem Schwarzweißfilm erzählte die experimentierfreudige Regisseurin beim folgenden "Le bonheur" (1965) in leuchtenden und warmen Farben vom Versuch eines Mannes ein glückliches Leben mit Frau und Freundin zu führen. Nicht zuletzt aufgrund seiner Offenheit für viele Interpretationen war dieser Film heftig umstritten und während ihm die einen mangelnde Moral und Nähe zum Kitsch vorwarfen, feierten ihn die anderen als Entlarvung der Glücksvorstellungen, die von der Konsumgesellschaft diktiert werden.

Nachdem auch der folgende Film "Les creatures" (1966), in dem sich ein Science-Fiction-Autor auf einer kleinen Insel zunehmend in der Fantasiewelt seiner Romane verliert, auf wenig Begeisterung gestoßen war, begleitete Varda ihren Ehemann Jacques Demy auf einer Reise in die USA.

Ein Projekt für Columbia Pictures lehnte sie ab, weil ihr das Recht auf den Endschnitt verwehrt wurde, dafür drehte sie unabhängig einen Dokumentarfilm über die Black-Panther-Bewegung ("Panther", 1968) sowie den zwischen Dokument und Inszenierung oszillierenden "Lion´s Love" (1969). Gedreht im Haus der Warhol-Schauspielerin Viva! und der beiden "Hair"-Macher Jerome Ragni und James Rado, wird darin nicht nur die Befindlichkeit der Post-Hippie-Generation vermittelt, sondern mit dem Besuch der Filmemacherin Shirley Clarke, die von ihren Kämpfen mit den Hollywood-Bossen berichtet, auch Einblick in das US-Filmgeschäft geboten.

Nach ihrer Rückkehr nach Frankreich konnte sie zunächst nur kleine Projekte realisieren, meldete sich aber 1977 mit "L´une chante, l´autre pas", in dem anhand der Freundschaft zweier Frauen und ihrer gegensätzlichen Lebenswege die Rolle der Frau thematisiert wird, eindrücklich zurück. Danach folgten wieder Kurzfilme, ehe ihr 1985 mit dem in Venedig mit dem Goldenen Löwen ausgezeichneten "Sans toit, ni loi" ("Vogelfrei") ihr wohl bekanntester Film gelang.

Mit einer starken Sandrine Bonnaire in der Hauptrolle und der meisterhaften Mischung aus dokumentarischem Blick auf die Realität und inszenierter Geschichte erzählt Varda darin eindrucksvoll von einer jungen Frau, die ein unabhängiges Leben abseits gesellschaftlicher Zwänge führen will und dem Preis, den sie dafür zahlt.

Eigenwillige Porträts realer Personen folgten. So zeichnete sie in "Jane B. par Agnès V." (1987) mit ungewöhnlichen formalen Mitteln ein Porträt der Schauspielerin Jane Birkin, während sie mit "Jacquot de Nantes" mit nachinszenierten Szenen an die Kindheit ihres 1990 verstorbenen Ehemann Jacques Demy erinnerte und ihm ein formal verspieltes Denkmal setzte.

Früh verstand es die gelernte Fotografin kleine Digitalkameras für Filmprojekte zu nutzen und konnte damit in "Les glaneurs et la glaneuses" ("Die Sammler und die Sammlerin", 2000) einen Blick auf das Leben vom Menschen am Rande der Gesellschaft werfen, reflektierte aber auch über die Bedeutung des Begriffs "Sammeln" und in der Vermischung von Video- und 35-mm-Bildern auch über das Sammeln von Bildern und unterschiedliches Filmmaterial.

Zunehmend ist sie im Laufe ihrer Karriere selbst eine Bildsammlerin geworden und zog so auch in "Les plages d´Agnes" ("Die Strände von Agnès", 2008) in assoziativer Montage von Found-Footage und inszenierten Szenen eine Bilanz ihres Lebens. Familienfotos ergänzt sie durch nachgespielte Szenen, erinnert durch Fotos an ihre Chinareise in den 1950er Jahren oder an das im revolutionären Aufbruch befindliche Kuba Castros.

Das Politische vermischt sich so mit dem Privaten, mit der Erinnerung an Schauspieler wie Gerard Philippe und Jean Vilar, an ihre Kinder – und immer wieder an ihren verstorbenen Ehemann Jacques Demy. Von ihren Anfängen als Fotografin über ihr filmisches Werk bis zu ihrer Beschäftigung mit Bildender Kunst spannt sich der Bogen.
Nicht nur zahlreiche Filmausschnitte werden dabei präsentiert, sondern die Regisseurin und "heitere Feministin" reflektiert auch selbst über ihr künstlerisches Schaffen ebenso wie über ihr gesellschaftspolitisches Engagement vom Protest gegen den Vietnamkrieg in den späten 1960er Jahre bis zum Kampf für das Recht der Frauen auf Abtreibung.

Schon der letzte Film dieser großen Regisseurin schien das zu bleiben, doch neun Jahre nach diesem Selbstporträt meldete sie sich mit "Visages Villages" ("Augenblicke: Geschichte einer Reise", 2017) zurück. Gemeinsam mit dem Fotografen und Streetart-Künstler J.R. reiste Varda dafür durch das ländliche Frankreich, wobei sie "die unterschiedlichsten Menschen besuchten und ihre Geschichten entdeckten, die sie in überlebensgroßen Porträts an Fassaden, Zügen und Containern verewigten." (Wikipedia)

Verleihung des Ehrenoscars an Agnès Varda (2017)