Traum & Wirklichkeit

Der Schweizer Architekt Christian Kerez hat bis dato relativ wenig gebaut, dies aber umso konsequenter, eigenwilliger und präziser. Internationale Beachtung erfuhr er erstmals 1998mit dem in Zusammenarbeit mit Morger & Delego errichteten Kunstmuseum Vaduz. Zehn Jahre später war es ein weiterer Museumsbau, sein Siegerprojekt für das Museum for Modern Art in Warschau, mit dem er die mediale und politische Aufmerksamkeit auf sich zog. Die polnische Öffentlichkeit hatte sich ein ikonisches Bauwerk erwartet und war von dem scheinbar "banalen" Gebäude des Schweizers enttäuscht.

So minimal sich allerdings die Bauten von Kerez präsentieren, so komplex ist der Prozess, der zu seinen stark konzeptionell geprägten Entwürfen führt. Er startet bei jedem Projekt quasi bei Null, schafft jedes Mal neue Grundlagen und setzt sich dabei mit zahlreichen, das Projekt betreffenden Einzelaspekten auseinander – mit gesetzlichen Vorgaben, technischen und ökonomischen Anforderungen, Wünschen der Bauherren aber auch mit kontextuellen Gegebenheiten und sozialen Bedingungen –, die er schließlich in eine rein architektonische Fragestellung überführt. Mit dem Ziel, Beliebigkeit zu vermeiden, die er als Gegenteil architektonischer Qualität betrachtet, versucht er konsequent und akribisch das Grundsätzliche an einer Aufgabenstellung herauszuschälen und durch systematisches Ausschließen und Durchdenken zu der einen, "zwingenden" Lösung zu gelangen.

Das Resultat sind auf das Wesentliche reduzierte Arbeiten, die nicht aufgrund persönlicher, gestalterischer oder ästhetischer Regeln entstehen, sondern aufgrund der "äußeren Erfordernisse". Im "Haus mit einer Wand" etwa, einem Zweifamilienhaus in Zürich, reduziert er - unter Berücksichtigung "außerarchitektonischer" Aspekte wie Grundstück, Bebauungsvorschriften, Anliegen der Bauherren – die architektonische Aufgabenstellung auf das einzige verallgemeinerbare Element dieses Haustyps: die beide Wohnhäuser teilende Wand, die, in eine Glashülle gestellt, die Wohnungen definiert. Der Verlauf der gefalteten Wand in den einzelnen Geschossen ist wiederum keinem entwerferischen "Gestus" entsprungen, sondern hat sich – auf der Suche nach einer logischen, eindeutigen Form – aus vielen Untersuchungen und Herleitungen wie "von selbst" ergeben.

Christian Kerez betrachtet sich als "Architekt ohne Eigenschaften", der sich soweit wie möglich aus dem Entwurf heraus hält, um an seiner Stelle die "Fakten" entscheiden zu lassen. Im Entstehungsprozess seiner Projekte, der einer architektonischen Versuchsanordnung gleicht, innerhalb der er wie ein Forscher aus den divergierenden Einzelaspekten ein kohärentes Ganzes herstellt, spielen die zahlreichen, meist großformatigen Modelle als gebaute Konzepte eine wesentliche Rolle.

Dementsprechend viel Raum nehmen die Modelle auch in der Ausstellung "Traum & Wirklichkeit" ein, die weniger einen Überblick über das Gesamtwerk von Christian Kerez zeigt, als anhand einzelner Projekte eine Annäherung an sein Architekturverständnis ermöglichen möchte. Die vorgestellten Projekte, das Mehrfamilienhaus Forsterstraße, das Schulhaus Leutschenbach, das "Haus mit einer Wand", alle in Zürich realisiert, sowie drei aktuelle Wettbewerbsprojekte – das Holcim Competence Center in Holderbank, das Museum of Modern Art in Warschau und das Bürogebäude Swiss Re Next in Zürich – werden mit Modellen, Plänen und Skizzen präsentiert, die Aufschluss über die Entwicklungsschritte im Entwurfsprozess geben.

Die realisierten Projekte werden zudem mittels Fotografien von Walter Maier veranschaulicht, die Wettbewerbsprojekte anhand "realistischer" Filmfahrten durch die Modelle in einem quasi dreidimensionalen, bewegten Medium erfahrbar. Dem Medium Film widmet sich auch der dritte Raum der Ausstellung, wo neben dem von Arno Ritter mit Christian Kerez geführten Interview eine Auswahl an Spielfilmen zu sehen ist, die den leidenschaftlichen Filmkonsumenten beeindruckt haben.

Christian Kerez, geb. 1962 in Maracibo (Venezuela); 1982–88 Architekturstudium an der ETH Zürich; 1991–93 Mitarbeit im Architekturbüro Rudolf Fontana; 1991–95 als Architekturfotograf tätig; seit 1993 eigenes Architekturbüro in Zürich; seit 2001 Lehrtätigkeit an der ETH Zürich, zunächst als Gast- und in der Folge als Assistenzprofessor; zahlreiche Auszeichnungen u. a. 1999 "Eidgenössischer Preis für freie Kunst 1999" und 2002 "Balthasar Neumann Preis"


Christian Kerez - Traum & Wirklichkeit
2. Oktober bis 19. Dezember 2009