Tilo Schulz & Mohamed Bourouissa im Münchner Haus der Kunst

Das Haus der Kunst eröffnet Ende Oktober eine neue Ausstellungsserie, genannt "Kapsel-Ausstellungen". In dieser Reihe werden jüngere, in der Museumslandschaft noch wenig etablierte Künstler und Künstlerinnen präsentiert und neue Produktionen ermöglicht. Die Kapselausstellungen geben auf diese Weise Einblick in künstlerische Praktiken und Produktionsweisen. Den Auftakt zu dieser Serie bilden neue Produktionen des in Leipzig geborenen Künstlers Tilo Schulz (geb. 1972) und des französisch-algerischen Künstlers Mohamed Bourouissa (geb. 1978). Jeder der beiden präsentiert sein Werk autonom in jeweils einem großen Saal, einer sog. "Kapsel".

Mit direktem Bezug auf die Dimensionen des fast 200 qm großen Ausstellungssaals baut Tilo Schulz eine begehbare Holzkonstruktion mit den Grundmaßen dieses Saales. Diese Konstruktion wird um 18 Grad gedreht und in dem Saal installiert. Durch die Drehung geht ein Stück des eingefügten Raumes hinter den eigentlichen Mauern verloren und existiert somit nur in der Vorstellung des Betrachters, als verdrängter Raum. Die Bodenplatten des "neuen" Raumes schmiegen sich kaum erhöht an die bestehende Architektur an. Die Installation erstreckt sich vor dem Besucher wie ein begehbares Bild. Beim Betreten dieses neuen Raums werden an verschiedenen Stellen malerische Eingriffe sichtbar, und ein literarischer Text wird hörbar. Mit ihm gibt Tilo Schulz dem ursprünglichen, verdrängten Raum, der durch die Drehung einen Teil von sich selbst verloren hat, eine Stimme.

Der Text greift unterschiedliche Arten von Bewegung und Verdrängung als etwas elementar Menschliches auf und animiert den Besucher, die Verbindung zu geschichtlichen Ereignissen herzustellen und ein Bewusstsein für die eigene Bewegung und deren Grenzen zu gewinnen. In seiner Doppelrolle als Künstler und Autor führt Tilo Schulz mit seiner Installation mehrere künstlerische Anliegen zusammen: Er schafft mit einfachen Materialien einen Raum, der optisch, physisch und akustisch erfahrbar ist und als Metapher für Verdrängung, Grenzen und Kontrolle fungiert. Gleichzeitig existiert dieser Raum tatsächlich, d.h. der Besucher kann ihn durchschreiten und erleben wie eine städtische Umgebung, in der sich verschiedene Blickwinkel und Begegnungen mit anderen ergeben. Die künstlerische Auseinandersetzung mit Übergangsräumen, Grenzen, Bewegung berührt allgemein menschliche Erfahrungen. Dabei gibt es sowohl einen Bezug zur Biografie von Schulz – er ist in der DDR aufgewachsen – als auch zu aktuellen gesellschaftlichen Entwicklungen.

Durch das Werk des französisch-algerischen Künstlers Mohamed Bourouissa (geb. 1978) zieht sich wie ein roter Faden die Frage nach der Konstruktion gesellschaftlicher, ökonomischer, kultureller Werte und deren Konflikten untereinander. Im Zentrum stehen Menschen, die sich sozial, kulturell und ökonomisch an den Rändern der Gesellschaft bewegen. Kurz nach den Unruhen in den Pariser Banlieues 2005 fing er an, mit einer fotografischen Serie eine neue Perspektive jenseits der Medienberichterstattung zu zeigen. Für "Périphérique" (2005-09) arbeitete er eng mit Jugendlichen aus den Banlieues zusammen. Er inszeniert sie in Fotografien, deren Komposition von den Gemälden eines Caravaggio, Delacroix oder Géricault inspiriert ist. Zuletzt machte er mit seinem Projekt "All-In", für das er mit dem Rapper Booba kollaborierte und die Kunstwelt mit dessen Musik konfrontierte, von sich reden.

Im Rahmen der Kapsel-Ausstellungen präsentiert Mohamed Bourouissa sein neuestes Projekt "Horse Day" (2014). Über Monate hinweg lebte der Künstler in Philadelphia und beschäftigte sich mit dem Fletcher Street Urban Riding Club. Daraus entstanden ist ein Film, fotografische Werke und eine Reihe von Skulpturen. Pferde gehören seit den 1960er-Jahren zum im Stadtbild von Philadelphia. Anfangs transportierten sie Gemüse, Obst, Milch und Hausrat, später dienten sie der Freizeitgestaltung ihrer Besitzer. Die Reitställe bieten vielen Jugendlichen eine attraktive Beschäftigung. Bei der Fürsorge für die Tiere schulen sie auch ihr Verantwortungsbewusstein.

2006 veröffentlichte die Fotografin Martha Camarillo Bilder dieser Reitställe aus der Fletcher Street, im Norden von Philadelphia. Durch sie wurde Mohamed Bourouissa auf das Thema aufmerksam. Die Jugendlichen und ihr urbanes Umfeld verkörpern für Bourouissa ein subversives Modell des Cowboy, das den in die Jahre gekommenen Stereotyp des - stets hellhäutigen - Marlboro- oder Western- Cowboys ablöst. Aufhänger der Handlung in Mohamed Bourouissas Film ist das "Horse Tuning": Vor dem Wettbewerb, einem Hindernisparcours, werden die Pferde "aufgemotzt" und bei einem Schaulaufen der Jury und dem Publikum vorgeführt. Die Kostüme entstanden in Zusammenarbeit mit zeitgenössischen bildenden Künstlern aus Philadelphia: eine Pferdedecke aus aneinandergereihten CD-Rohlingen, die das Sonnenlicht reflektiert, oder eine leuchtende Neonröhre an der Stirn des Tieres, die dieses Pferd zu einem Fabelwesen werden lässt, ähnlich dem mythischen Einhorn.

Das Umfeld der sozial überwiegend benachteiligten Jugendlichen verwandelt sich durch das "Tuning" der Pferde in ein fantastisches Szenario, in dem Pferd und Reiter zu wundersamen und fast apokalyptischen Figuren verschmelzen. Durch die Einführung des Fantastischen öffnet sich ein Raum, der eine Neudefinition der eigenen Identität zulässt. Gleichzeitig schlägt das Tuning eine Brücke zwischen Pferd und Auto. Gemeinsam ist beiden der amerikanische Mythos von Freiheit und Selbstdarstellung.


Tilo Schulz & Mohamed Bourouissa
24. Oktober 2014 bis 11. Januar 2015