Textverschmelzung oder der präparierte Wolpertinger

Unabhängig von der Schlauheit oder Dummheit eines Textes ist ein jeder solcher ein Hybrid, ein gebündeltes, gekreuztes und gemischtes Etwas aus Halbwahrheiten oder angesammelten, gestohlenen und neu gezipptem Wissen. Aus der Kombination von Worthülsen, Ideen und Sprachfragmenten mischt und kombiniert sich im Idealfall ein neues Ganzes, welches vielleicht die Spuren seiner Entstehung zitiert oder auch verschleift.

Mit Recht ist daher das Mischwesen Pegasus - das geflügelte Pferd der griechischen Mythologie - auch ein Symbol der Dichter, die sich im Bewusstsein über ihre eigene Sprach- und Körpergebundenheit mit dem überzeugenden Bild eines Flügelpferdes identifizieren, um sich zumindest im Denken von der Anziehungskraft des Realen, Erdgebundenen zu lösen. Ein ähnliches Bild, das den Perspektivwechsel oder den Sprung auf ein höheres Betrachtungsniveau ermöglicht, liefert die Biologie mit dem Begriff der Chimäre. Dieser kennzeichnet einen Organismus, der zwar aus genetisch unterschiedlichen Zellen oder Geweben aufgebaut ist, aber dennoch ein einheitliches Individuum darstellt. Die von Edgar Leissing kuratorisch präsentierte Gruppe von Künstlerpersönlichkeiten versinnbildlicht diese Heterogenität einer bewusst zersplitterten aber dennoch plausiblen Form in mehrfacher Hinsicht. Vorerst manifestiert sich des Malers eigener Geschmack: seine ungehemmte Lust, die unmöglichsten und widersprüchlichsten Realitäten miteinander zu verknüpfen oder aufeinanderprallen zu lassen. Die schrill kombinierten Motivnachbarschaften erzählen in einem unbeschwert manierierten Stil vom Sog nach Transformation, Illusion und Sinnzertrümmerung. Die Ausstellungskonzeption hebt diese individuelle Zellkultur der Collage, Verschmelzung und Metamorphose auf ein neues Format, das sich jedoch in der Zurschaustellung des fragmentierten Körpers als kleinster gemeinsamer Nenner treu bleibt. Das tänzerische Moment in den Leissingschen Bildfindungen legt die Spur zum Frankfurter Fotograf Dominik Mentzos, der schon seit Jahren die Akteure der William Forsythe Company begleitet. Seine Arbeiten der Serie "Surface" verschneiden die dort eingefangene Bildwelt im Medium der Collage. Forsythe"s bildmächtige, flüchtige und raumgreifende Inszenierungen werden ins Gefriermedium der Fotografie gebannt und mit der Collage, die formal den Tanz zum Ornament erklärt, wieder zu neuer Wirklichkeit erlöst. Während Mentzos die Arbeit an der Nahtstelle der Einzelbilder kennzeichnet, verwischt der abstrakte fotografische Realismus des Michael Wilhelm (Wien) gerade jene Schnittflächen. Wilhem spielt mit den Möglichkeiten des digitalen Betrugs. Seine 15-teilige Serie "Fleischquasten-Procedural Sculpting" (2005-2007) verdeutlicht das spezifische Eigenleben der Technik, in der Menschliches zwar als Referenzwert nachklingt, doch jederzeit synthetisch verdrängt werden könnte. Triebfeder sind die Verschiebung der Realitätsebenen vom analogen zum digitalen Realismus und die darin mögliche Animation eines performativ codebelebten Pixelmaterials. Gänzlich andere Wurzeln hat der multimediale Kunstkosmos des Mistelbacher Künstlers Heinz Cibulka. Ausgehend vom Vokabular des Wiener Aktionismus, hat er sich in den letzten Jahren mit Fotozyklen, lyrischen Bildgedichten, Objektbildern und digitale Bildcollagen konzeptuell vom Außenbezug der Aktionisten-Theatralik hin zu einer individuellen Kosmologie entwickelt, in der die komplexen Bildkombinationen die metaphorischen Kraftfelder der einfachen Dinge untersuchen. Die Bildsprache von Karin Franks (Wien) Holzfiguren ist zwar surreal, doch auch unmissverständlich direkt. Ihre Werke faszinieren durch eine schonungslose Zurschaustellung des Körpers, seiner Sexualität und seiner Notwendigkeiten. Franks Skulpturen liefern prägnante Bilder eines verfügbaren Körpermaterials, dessen physische Kontingenz offensichtlich auch zum Ausstieg genutzt werden kann. Die Meerjungfrau ist ein doppeltes Sinnbild der Erlösungsbedürftigkeit. Da sich auch ein riesiger Penis unübersehbar ins Bildgefüge drängt, wirkt sie nicht nur im Schicksal ihres schuppigen Fischschwanzes gefangen. Thematisch erlaubt dieser doppelte Zwitter (nun vielleicht ein Pseudohermaphrodit) wieder die Rückkopplung an die Mythologie und dort an den jungen Hermaphroditen, den die Götter mit einer Nymphe verschmolzen. Auch Kassandra Beckers (Karlsruhe) figurativen Skulpturen und Multimedia-Arbeiten ziehen ihren Reiz aus dem Spannungsmoment der Widersprüche. Im bildreichen Fahrwasser der ovidschen Metamorphosen als scheinbar unerschöpfliche Inspiration der Kunst mit ihren Fabelwesen, Faunen und Satyrn kreuzen sich bei dieser Künstlerin Frauenbeine mit einem Vogel oder es sprießen Geweihe aus roten Männerköpfen. Die überraschenden Kippmomente, die in Beckers Werk angelegt sind, sind auch für Deborah Sengl charakteristisch. In ihrer Leinwandserie "Von Schafen und Wölfen" zeigt Sengl das Animalische als schillernde Monstranz auf den körperlichen Hüllen von Würdenträgern. Den gehörnten Bischöfen und Sportlern bleibt das Pathos, doch ihre triebgebundene Bedingtheit wirkt enttarnt. Die Künstlerin beschäftigt die Kausalität und das Wechselspiel zwischen den Jägern und Gejagten. Wenn sie menschlichen Gestalten Tierköpfe aufgesetzt und verschiedenartige Tiere miteinander kombiniert, klingt zwar die ägyptische Sphinx-Tradition an, doch eigentlich geht es ums existentielle Überleben in der Nahrungskette und die möglichen Formen der Domestizierung. Wie in der Technik erlaubt auch die Hybridbauweise der Kunst mit ihren surrealen Drehungen, Windungen und Verschmelzungen die Auseinandersetzung mit komplexeren Strukturen, in denen das monokausale, systemische Denken und eingeschliffene Betrachtungsweisen nicht nur auf die Probe gestellt werden, sondern das Ergründen des Selbst erst grundsätzlich möglich werden. Im Abstraktionspotential und der assoziativen Offenheit gleicht das Bildhafte der Sprache und seiner wirklichkeitskonstituierenden Relevanz. Fraglich ist, ob der Rezipient als Wanderer durch die Bildwelten der Kunst den leichtgläubigen Touristen ähnelt, die den Wolpertinger erstanden haben, der als bayrischen Fabelwesen im 19. Jahrhundert von Tierpräparatoren produziert wurde, oder ob er die Irritation in Boschs Garten der Lüste zum Anlass nimmt, die eigene Präparation von Wirklichkeit zu hinterfragen.
Körper.Verschmelzungen 8. bis 30. Mai 2010