"Tattoo" im MKG Hamburg

Im Winter verborgen, im Sommer öffentlich zur Schau getragen: Tattoos sind heute allgegenwärtig. Als kulturhistorische Konstante sind sie aber weit mehr als ein Massenphänomen und kultiges Modeaccessoire. Tattoos erzählen persönliche Geschichten, schaffen Identität und Zugehörigkeit, sollen schmücken, heilen und schützen, sie faszinieren oder stoßen ab, werden mystifiziert oder sind Teil von Trends.

Die Ausstellung "Tattoo" lotet erstmals das breite Spektrum dieser alten und noch immer sehr lebendigen Kulturtechnik im Fokus von Kunst und Design aus, stellt internationale Positionen vor und greift aktuelle Diskussionen auf. Sie beleuchtet die Ambivalenz des Tattoos zwischen Auszeichnung, sozialer Zuordnung, Identitätsmerkmal und Stigmatisierung in verschiedenen Kulturen, sozialen Schichten und Epochen. Ein Schwerpunkt liegt auf der wechselseitigen Beeinflussung von Kunst, traditioneller Tätowierpraxis und visueller Gestaltung. "Tattoo" zeigt über 250 Arbeiten, darunter Fotografien, Farbholzschnitte, Gemälde und Skulpturen, Videoarbeiten und Audioinstallationen sowie Vorlageschablonen und historische Hautpräparate. Tätowiergeräte von einfachen Naturwerkzeugen bis zu filigranen Präzisionsmaschinen, Farben und Pigmente vermitteln ein Bild von der handwerklichen Praxis.

Mit der Schau blickt das MKG auch zurück auf die traditionsreiche Geschichte der Hamburger Tattoo-Szene, deren Wiege im Hafenmilieu des späten 19. Jahrhunderts zu finden ist. Bisher unveröffentlichte historische Fotografien dokumentieren die typischen Tätowierungen der Hamburger Arbeiterschaft um 1890. Tattoo-Legenden wie Christian Warlich ("der König der Tätowierer") und Herbert Hoffmann stehen für eine vielfältige und ausdrucksstarke Kunstform, die immer neue gestalterische Experimente hervorbringt. Einen Einblick geben Arbeiten lokaler Tattoo-Künstler, die sich von der Sammlung des Museums inspirieren ließen. Ein Bilderloop zeigt zahlreiche Arbeiten renommierter Tätowier und Tätowiererinnen aus der aktuellen internationalen Szene, die durch eine Vielfalt an Stilrichtungen und neuen ästhetischer Bewegungen auszeichnet.

Weltweit nutzen viele Kulturen die menschliche Haut als Bildträger. Die Tradition der Tätowierung gehört zu den frühen Kunstformen und ältesten Handwerkspraktiken. Die Ausstellung stellt ausgewählte Beispiele vor. Die Gesichtstätowierungen der Chin-Frauen in Birma etwa sind Teil eines Rituals, das den Übergang von der Kindheit zur Welt der Erwachsenen markiert. Mit Hilfe von Dornen oder Nadeln bringen Tätowiererinnen Muster in die Haut ein, die sich von Familienclan zu Familienclan unterscheiden. Auch die neuseeländischen Tā Moko, die Gesichtstätowierungen der Maori, geben Auskunft über die Familienzugehörigkeit und soziale Stellung der Person. Jede Gesichtspartie ist bestimmten Informationen vorbehalten, so zeugt eine Tätowierung der Stirnmitte etwa von einem hohen Status. In Thailand sind sakrale Tätowierungen – Sak Yant genannt – weit verbreitet. Sie sollen ihre Träger vor Unglück bewahren und sie unterstützen, ein moralisch korrektes Leben zu führen.

Tattoos haben auch in Japan eine lange Tradition, die erste Erwähnung stammt aus dem 3. Jahrhundert. Die Gestaltung folgt dabei einer besonderen Harmonie und Eleganz und zeichnet sich durch klar gegliederte Farbbereiche aus. Die Tattoos erstrecken sich oftmals über große Körperflächen und fügen sich zu einem zusammenhängenden Bild. Die Motive greifen häufig Themen traditioneller Holzschnitte auf oder stellen mythologische Wesen dar, die besondere Eigenschaften des Trägers hervorheben sollen. Der Drache steht beispielsweise oft für Männlichkeit, Macht oder den Himmel. Da Tätowierungen von 1870 bis 1948 in Japan verboten waren, werden sie lange Zeit mit dem kriminellen Milieu der Yakuza, einer japanischem Mafia-Organisation, in Verbindung gebracht.

Im 18. und 19. Jahrhundert prägen illustrierte Reiseberichte den Blick auf die fremden Kulturen in Übersee und wecken die Neugier für die damals exotischen Tätowierpraktiken. Das Wort Tattow aus dem polynesischen Sprachgebrauch findet zum ersten Mal Erwähnung in James Cooks Forschungsberichten über seine Expeditionen in die Südsee im 18. Jahrhundert. Durch die sehr beliebten frühen ethnografischen Zeichnungen und Stiche sowie später folgende Fotografien erfolgt eine Popularisierung der modernen Tätowierung in der westlichen Welt. Die Kunst des Tätowierens steht anfangs oftmals für das erotisierte Fremde und eine magisch-mythische, von Kulten und Riten begleitete Welt.

Tattoos erleben in Europa und in Amerika in der Zeit bis zum Ersten Weltkrieg eine Blütezeit. So sind selbst die Angehörigen der amerikanischen Oberschicht und nahezu aller europäischen Fürstenhäuser – einschließlich des Deutschen Kaiserhauses – tätowiert. In dieser Zeit gilt diese Form des Körperschmucks als Ausdruck von gutem Geschmack. Im 19. Jahrhundert bildet sich aber vor allem im Bürgertum aber eine ambivalente Haltung gegenüber der Tätowierung heraus. Faszination und Ablehnung liegen in der westlichen Tattoogeschichte folglich eng beieinander und begründen den Doppelcharakter der Tätowierung als Stigma und Auszeichnung.

Durch die Verbreitung des Tätowierens in verschiedenen gesellschaftlichen Schichten und Gruppierungen vervielfältigen sich im letzten Jahrhundert die Funktionen und Bedeutungen des Tattoos. Vor allem die Doppeldeutigkeit von Stigma und Auszeichnung zeigt sich symptomatisch in verschiedenen milieuspezifischen Tätowierpraktiken. Während Seeleute und Soldaten mit exotischen Bildmotiven ihre Reisetätigkeit dokumentieren, entwickeln sich im kriminellen Milieu Tätowierungen regelrecht zu Erkennungszeichen. Im Kontext der aufkommenden Fahndungsfotografie erlangen Tattoos bereits Anfang des 20. Jahrhunderts als erkennungsdienstliches Identifikationsmerkmal besondere Bedeutung.

In russischen Gefangenenlagern werden im späten 19. Jahrhundert Tätowierungen und Brandmarkungen systematisch von staatlicher Seite eingesetzt, um Straftäter zu markieren. In der Folge unterlaufen russische Berufsverbrecher diese Form der Stigmatisierung jedoch mit ihren informellen Tätowierungen. Sie wandeln traditionelle Motive ab und entwickeln daraus einen geheimen Zeichencodex, der Gruppenzugehörigkeit, Verurteilungen oder den Rang in der kriminellen Hierarchie sichtbar macht. Auch für die stark tätowierten Mitglieder der lateinamerikanischen Gangs der Mara Salvatrucha und M-18 besitzen die auf der Haut zur Schau gestellten Schriftzüge und Symbole eine wichtige Erkennungs- und Gemeinschaftsfunktion. Der französische Fotograf und Filmemacher Christian Poveda hat sie dokumentiert. Die Arbeit des Österreichers Klaus Pichler spürt der gegenwärtigen Bedeutung von Gefängnistätowierungen nach und gewährt einen fotografischen Einblick in Formen der Haftbewältigung innerhalb des Strafvollzugssystems.

Der Stich unter die Haut fordert dieselbe ästhetische Vorstellungskraft und Sorgfalt, dasselbe handwerkliche Geschick und Wissen über Materialien und Farbgebrauch wie andere gestalterischen Verfahren. Die zeitgenössische Tätowierszene transzendiert innovativ die Sprache der klassischen Tätowierung und erneuert das Medium. Ein Bilder-loop in der Ausstellung zeigt internationale Arbeiten unterschiedlichster Stilrichtungen und von herausragender Qualität.


Tattoo
13. Februar bis 6. September 2015