Streben nach dem Gesamtkunstwerk

Hedwig Scherrer gehörte zu den ersten Ostschweizerinnen, welche eine künstlerische Laufbahn einschlugen. Das Werk der Künstlerin umfasst Ölbilder, Zeichnungen, Gebrauchsgraphik, Wandgemälde, Miniaturen sowie Entwürfe für das Marionettentheater und für Trachten. Ausgebildet in St.Gallen, München und Paris, bezog sie 1908 ihr selbst entworfenes Atelierhaus in Montlingen.

In ihrer Malerei blieb sie stets der gegenständlichen Kunst verpflichtet und stand mit ihren dekorativen Jugendstilformen sowie ihren märchenhaft-symbolistischen Inhalten sichtlich unter dem Einfluss von Ferdinand Hodler (1853-1918) und Giovanni Segantini (1858-1899). Zeitlebens hielt sie sich vom Kunstmarkt fern. Stattdessen engagierte sie sich stark in sozialen Bereichen und nutzte die Kunst, um ihre Anliegen der Gesellschaft zu vermitteln. Anlässlich des 70. Todesjahres der Künstlerin zeigt das Historische und Völkerkundemuseum St.Gallen Hedwig Scherrers Werk im Kontext der Idee des Gesamtkunstwerks und der Reformbewegungen um 1900.

Hedwig Scherrer wurde am 11. März 1878 in Bad Sulgen TG als einziges Kind von Josef und Philippine Scherrer-Füllemann geboren. Seit Hedwigs achtem Lebensjahr wohnte die Familie in der Stadt St.Gallen. Ihre Eltern waren für ihre künstlerische Laufbahn eine grosse Hilfe. Sie akzeptierten schon früh ihre Wahl für den Beruf der Künstlerin und unterstützten sie dabei stets. Der Vater war Rechtsanwalt und als Mitglied der Demokratischen Partei St.Galler Regierungs- und Nationalrat. Seine grosszügige Unterstützung, verbunden mit ihrem bescheidenen Lebensstil, ermöglichte Hedwig Scherrer ein unbeschwertes Dasein als Künstlerin.

Nach ihrer Ausbildung in St.Gallen, München und Paris bestimmten drei Orte das Leben der Künstlerin: Die Stadt St.Gallen, wo sie bis 1908 bei den Eltern wohnte und auch danach von Zeit zu Zeit ein Atelier mietete; Montlingen, wo sie 1908 ihr selbst entworfenes Atelierhaus bezog; sowie Gamperdond (Vorarlberg), wo der Vater eine Jagdhütte besass, die sie vor allem in den Sommermonaten oft besuchte. Hedwig Scherrer war eine äusserst vielseitige Künstlerin. Immer wieder versuchte sie sich an neuen Herausforderungen. Sie schuf Gemälde und Graphiken, illustrierte Bücher, stellte Miniaturen her, dichtete Märchen, komponierte Lieder, entwarf Trachten, Bühnenbilder, Marionetten, Plakate und sogar ihr eigenes Atelierhaus einschliesslich Mobiliar.

Bei den Gemälden und Zeichnungen finden sich vor allem Landschaftsbilder des St.Galler Rheintals und des vorarlbergischen Gamperdond sowie Porträts von Verwandten und Freunden. Darstellungen der Stadt St.Gallen fehlen hingegen gänzlich. Stilistisch orientierte sie sich an den Vorbildern der Schweizer Kunstszene des ausgehenden 19. Jahrhunderts, deutlich spürbar sind Einflüsse von Ferdinand Hodler und Giovanni Segantini. Sie verband die dekorativen Elemente des Jugendstils mit idealistisch-mystischen Andeutungen des Symbolismus. Besonders bemerkenswert sind die Miniaturen, die Hedwig Scherrer in den 1920er und 1930er Jahren schuf. Aus einem Auftrag für die Bestückung einer Brosche entstand eine Leidenschaft für diese kleinen Bilder, für welche sie eine besondere Technik entwickelte.

Hedwig Scherrer betrachtete die geistige Erneuerung Europas als Teil ihrer Lebensaufgabe. Mit verschiedenen künstlerischen Mitteln versuchte sie, ihre Anliegen der Gesellschaft näher zu bringen. Buchillustrationen, Märchenbücher und die Arbeiten für das Marionettentheater dienten in einem weiteren Sinne der Bildung und Erziehung der Jugend. Auf Postkarten und Graphik-Blättern warb sie für die Wandervögel und Skiclubs. Als Entwerferin von Trachten förderte sie die handwerkliche Arbeit und die Stellung der Frau. Auf Antikriegsplakaten prangerte sie die Rüstungsindustrie an. Neben den in der Ausstellung präsentierten Werken zeugt auch ihr schriftlicher Nachlass von ihrer menschenfreundlichen Gesinnung. Dieser wird grösstenteils in der Kantonsbibliothek Vadiana St.Gallen aufbewahrt.

Auch ausserhalb der Kunst setzte sie sich für Frauen, Kinder und Bedürftige ein. In ihren letzten Lebensjahren verwendete sie ihre ganze Kraft für die Betreuung von Flüchtlingen und Grenzschutzsoldaten. Bei dieser aufopfernden Tätigkeit zog sie sich eine starke Erkältung zu, von deren Folgen sie sich nicht mehr erholen sollte. Am 8. Mai 1940 starb sie in einem Zürcher Spital im Alter von 62 Jahren.

In der Ausstellung anlässlich ihres 70. Todesjahres wird Hedwig Scherrers Werk im Kontext der Idee des Gesamtkunstwerks und der Reformbewegungen um 1900 gezeigt. Im Vordergrund stehen deshalb Werke mit reformistischen Tendenzen: Die Arbeiten zur Trachtenbewegung, die Antikriegsplakate, das Atelierhaus. Ausgewählte Werke aus den anderen Schaffensbereichen illustrieren darüber hinaus die Vielseitigkeit der Künstlerin. Die Vielfalt ihrer künstlerischen Produktion, deren Unterordnung unter einen gesellschaftlichen Nutzen sowie ihre geistige Nähe zu den Ideen der Arts-&-Crafts- und anderer Reformbewegungen weisen Hedwig Scherrer als Vertreterin der Idee des Gesamtkunstwerks aus. In dieser Einheit von Kunst und Leben ist Hedwig Scherrers "Streben nach dem Gesamtkunstwerk" zu finden.

Zur Ausstellung erscheint eine Publikation: "Peter Zünd. Hedwig Scherrer: Schriften, Skizzen und Miniaturen." (Veröffentlichungen der Gesellschaft Pro Vadiana 23). St.Gallen: Kantonsbibliothek Vadiana, 2010.

Hedwig Scherrer – Streben nach dem Gesamtkunstwerk
Ausstellung im Historischen und Völkerkundemuseum St.Gallen
28. November 2010 bis 29. April 2012