Gegen das Vergessen arbeiten viele Filme der heurigen Viennale, zeichnen das Leben bedeutender Persönlichkeiten wie Simon Wiesenthal oder Marlon Brando nach und setzen sich andererseits auch mit der Frage der filmischen Aufarbeitung von Geschichte auseinander.
Der ungestörte Filmgenuss kann auf viele Arten von raschelnden Chips-Packungen bis zu diskutierenden Zuschauern gestört werden. Bei der Viennale-Vorführung des packenden, von pechschwarzem Humor durchzogenen neuen Films der Coen-Brüder kam eine neue Möglichkeit dazu: Abgelenkt wurde man von "No Country for old Man" immer wieder durch Security-Männer, die mit Nachtsichtgeräten am Rande des Saals patrouillierten, um das illegale Mitfilmen oder Fotografieren zu verhindern oder aufzudecken.
Solche Sicherheitsmaßnahmen gibt es glücklicherweise nur bei US-Blockbustern. Ungestört kann man sich folglich "Brando" widmen, in dem Leslie Greif und Mimi Freedman mit einer Fülle von Interviews, Fotos und Filmausschnitten das Leben des herausragenden Schauspielers nachzeichnen. Kommentar der Regisseurinnen ist nicht nötig, da sich das Leben ganz durch die Aussagen von Bekannten, Schauspielerkollegen oder Mitschnitten von TV-Auftritten Brandos erzählt.
Ist "Brando" zwar konventionell gemacht, aber facettenreich und kraftvoll, so erweist sich Richard Tranks "I Have Never Forgotten You – The Life and Legacy of Simon Wiesenthal" doch als zwar sorgfältige, aber allzu brave Lebensbeschreibung, die jeden kritischen Ansatz vermissen lässt. Genau das, wogegen sich Wiesenthal in einem seiner letzten Interviews mit dem Satz "Macht mich nicht zum Helden" wandte, betreibt dieser Film und drückt gegen Ende zudem kräftig auf die Tränendrüsen. Auch hier gibt es zahlreiche Interviewpartner vom Bestseller-Autor Frederick Forsyth, für dessen "Die Akte Odessa" Wiesenthal den Plot lieferte, bis zu Ben Kingsley, der den "Nazi-Jäger" in der Verfilmung seiner Memoiren spielte, doch erzählt wird das Leben durch einen von Nicole Kidman gesprochenen Kommentar. Die Bilder, die zudem durchgängig von einer penetranten Musiksauce unterlegt sind, haben fast nur illustrierende Funktion. Am spannendsten sind noch die Ausschnitte aus Interviews mit Simon Wiesenthal, doch da Reibungen und Verdichtungen fehlen, geht "I Have Never Forgotten You" nie über eine durchaus informative, für Unterrichtszwecke bestens geeignete Doku hinaus.
Jede Tiefe und Verdichtung geht angesichts der Ereignisfülle, die ein Leben bietet, nicht nur im Wiesenthal-Film, sondern auch in Ann Marie Flemings "The Magical Life of Long Tack Sam" verloren. Aber immerhin verfügt diese biographische Spurensuche über viel Witz und ist herrlich verspielt. Beinahe um die ganze Welt reiste die Regisseurin für die Rekonstruktion des Lebens ihres Urgroßvaters, der Ende des 19. Jahrhunderts in China geboren wurde, im jugendlichen Alter in die USA emigrierte und dort Karriere als Zauberer und Artist machte. Weil über die Jugend Long Tack Sams wenig bekannt ist, lässt Fleming die Nachkommen unterschiedliche Geschichten präsentieren und illustriert diese mit einfachen Comics.
Liebevoll spielt die Nachfahrin mit dem Archivmaterial, lässt ihren Uropa von Fotos blinzeln oder kopiert sein Konterfei in einen Ozeandampfer hinein. Diese Verspieltheit verleiht dieser Hommage große Leichtigkeit, verwischt aber auch bewusst oder unbewusst die Grenzen zwischen "Story" und "History" zwischen Fiktion und Realität, sodass man sich immer wieder an Woody Allens "Zelig" erinnert fühlt.
Wie und ob man sich geschichtlichen Ereignissen filmisch überhaupt nähern kann, hinterfragt der Argentinier Nicolas Prividera, der sich in "M" auf eine Spurensuche nach seiner während der Militärdiktatur verschwundenen Mutter macht. Prividera klappert Institutionen ab, die sich mit dem Schicksal von Verschwundenen beschäftigen, befragt Bekannte und ehemalige Militärangehörige und fügt Fotos und Homemovies ein. Zwangsläufig entwickelt sich dabei die private Spurensuche zu einer Auseinandersetzung mit der öffentlichen Geschichte des Landes.
Öffentliche und private Geschichte untrennbar miteinander verbunden sind auch bei Volker Koepp, der mit "Söhne" neben "Holunderblüte" einen zweiten Film nach Wien brachte. Fünf Männer zwischen 65 und 70 zeigt die erste Einstellung: vier Brüder und ein "falscher" Bruder. Als nämlich die Mutter bei Kriegsende aus Westpreußen nach Süddeutschland floh, konnte sie nur ihre zwei ältesten Söhne mitnehmen. Wenig später kehrte sie von Schuldgefühlen geplagt illegal ins von den Russen besetzte Gebiet zurück, fand aber nur einen ihrer zurückgelassenen Söhne, von dem sich zudem Jahre später herausstellen wird, dass er gar nicht ihr leibliches Kind ist. Trotzdem blieb dieser "falsche Rainer" Teil der Familie und auch Kontakte zum echten Rainer und Stanislaw, die in Polen lebten, konnten in den 60er Jahren geknüpft werden. Stanislaw blieb in Polen, Rainer übersiedelte in den Westen.
Vor allem in Interviews mit den "fünf" Brüdern, aber auch mit ihren Frauen und Kindern sowie dem Gärtner des ehemals westpreußischen Landguts zeichent Koepp nicht nur die Familiengeschichte, sondern auch die deutsch-polnische Geschichte nach und reflektiert über Identität und Heimat. Die deutsch-polnische Familie, die nur zu fünft mit ihren Armen den Stamm eines alten Kastanienbaums umfassen kann, wird so zum Symbol des Zusammenrückens Europas und zum leisen Appell sich der gemeinsamen Wurzeln und der Notwendigkeit der Verwurzelung zu besinnen. Manchmal steht der "falsche Rainer" ein bisschen am Rande, als ob er nicht so ganz dazugehört – und doch wird er diskussionslos als Teil der Familie akzeptiert.
"Söhne" ist in seinem gelassenen Erzählrhythmus und den Landschaftsaufnahmen mit dem hohen Himmel Westpreußens oder den Hügeln um Heidelberg, die wie Pausen, die dem Zuschauer Raum zum Atmen geben, zwischen die Interviews gesetzt sind, ein unverwechselbarer Koepp-Film. Off-Kommentar wird ebenso spärlich eingesetzt wie Archivbilder. – Die Erzählungen der Porträtierten tragen "Söhne" und dennoch hat dieser Film nichts mit den "sprechenden Köpfen" unzähliger TV-Dokus zu tun. – Es sind Koepps kaum zu übertreffende Fähigkeiten den Leuten, deren Vertrauen er sichtlich genießt, geduldig zuzuhören, und ganz selbstverständlich im Privaten das Öffentliche sichtbar zu machen, die "Söhne" zu einem weiteren wichtigen Puzzlestein im Werk dieses großen deutschen Dokumentaristen und Geschichtsschreibers machen.