Sex, Drugs and Rock 'n' Roll

Im Mittelpunkt einer Ausstellung von Sigmar Polke in der Hamburger Kunsthalle steht eine vergessene, erst kürzlich wieder zusammengeführte Werkgruppe aus den Jahren 1974-1976: "Wir Kleinbürger - Zeitgenossen und Zeitgenossinnen". Das zehnteilige Ensemble außergewöhnlich großformatiger Arbeiten auf Papier nimmt durch die einzigartige Vielfalt von Figuren, Spuren, Zeichen und Zitaten aus populären Bildwelten einen zentralen Stellenwert im Œuvre des Künstlers ein.

Hier vermischen sich Anklänge an den so genannten Kapitalistischen Realismus der 1960er Jahre mit Vorläufern der chemischen und optischen Farbexperimente der 1980er sowie den seit Mitte der 1990er Jahre verstärkt verhandelten politischen Themen. So entsteht ein Panorama von Kunst und Alltag der durch Hippie-Kultur, die neue Frauenbewegung und Terrorismus geprägten BRD. Ausgehend von der Kleinbürger-Serie gewährt die Ausstellung erstmals Einblick in die gesamte, bislang von der Kunstgeschichte vernachlässigte, künstlerische Produktion Sigmar Polkes in den 1970er Jahren. Film und Photographie ebenso wie Zeichnung und Malerei führen in Verbindung mit dokumentarischen Materialien und Bildvorlagen nicht nur die mediale Bandbreite seines Schaffens vor Augen, sondern zeigen einen völlig neuen, da lange unbeachteten Polke zwischen Sex, Drugs and Rock "n" Roll.

Viele dieser Werke entstanden auf einem niederrheinischen Bauernhof – dem Gaspelshof bei Willich –, wo immer wieder auch andere Künstler arbeiteten und Freunde zu Gast waren. Polke pflegte ebenso enge Kontakte zur Köln-Düsseldorfer wie zur Berner und Züricher Kunstszene. Er war außerdem Professor an der Hochschule für bildende Künste in Hamburg. Ein Schwerpunkt der Ausstellung ist daher Polkes Kollaborationen gewidmet: In Schlüsselwerken von Wegbegleiterinnen und Wegbegleitern – Katharina Sieverding, Achim Duchow, Candida Höfer und vielen mehr – werden zeittypische Tendenzen zu gemeinsamem Arbeiten und Leben ebenso sichtbar, wie jeweils individuelle Auseinandersetzungen mit unter den Künstlerinnen und Künstlern kursierenden Themen der Zeit.

Ab März 2009 wird der Werkkomplex, der seinen Titel Hans Magnus Enzensbergers vieldiskutiertem Essay über die Unaufhaltsamkeit des Kleinbürgertums aus dem Jahr 1976 verdankt, in der Hamburger Kunsthalle erstmals nach über dreißig Jahren wieder öffentlich gezeigt. Die ungewöhnlich lange Laufzeit von zehn Monaten soll im schnelllebigen Ausstellungsbetrieb ein Signal zur Entschleunigung setzen und eine nachhaltige Auseinandersetzung mit dem Kleinbürger-Ensemble sowie den kulturhistorischen Kontexten der 1970er Jahre ermöglichen. In drei aufeinander folgenden, sich ergänzenden Wechselausstellungen mit Akzenten auf "Clique", "Pop" und "Politik" eröffnen sich immer wieder neue Zusammenhänge und unerwartete Perspektiven auf Polkes Œuvre, in welchen die Kleinbürger immer wieder neue Nachbarn bekommen.


Zeitgleich mit der Ausstellung erscheint im Verlag der Buchhandlung Walther König eine umfangreiche Publikation, die den Entstehungskontext von "Wir Kleinbürger - Zeitgenossen und Zeitgenossinnen" aufarbeitet und die Serie in einem größeren Zusammenhang verhandelt.

Sigmar Polke. Wir Kleinbürger!
Zeitgenossen und Zeitgenossinnen

13. März 2009 bis 17. Januar 2010