Sehnsucht nach befreitem Leben

27. September 2007
Bildteil

Ob die seit ihrer Kindheit schwer traumatisierte Irm in "Die Anruferin", eine KZ-Überlebende in "Emotional Arithmetic", eine Bangladeschi in London in "Brick Lane" oder "Lady Chatterley" – gemeinsam ist diesen Frauen, die im Mittelpunkt von Filmen, die beim 55. Filmfestival von San Sebastian gezeigt werden, stehen, dass sie sich erst von Zwängen befreien müssen, um glücklich leben zu können.

Echte Trends lassen sich bei einem Filmfestival selten ausmachen, denn zu vielfältig und übervoll ist meist das Programm. Das Bild, das sich einstellt, hängt ganz davon ab, welche Filme man gesehen hat. Auch die Frauenthematik ist somit nicht als Trend anzusehen, auch wenn sich problemlos noch weitere Titel dazu anführen liessen, sondern vielmehr als Ausgangspunkt, um mehrere Filme unter einem verbindenden Aspekt zusammenzufassen.

Um das Festivalprogramm etwas aufzufetten und der Presse, vor allem aber dem einheimischen Publikum, täglich auch ein sicheres Highlight bieten zu können, werden in San Sebastian nicht nur brandneue Filme, sondern in der Sektion "Zabaltegi Pearls" auch schon auf anderen Festivals viel beachtete Werke gezeigt. Cristian Mingus Cannes-Sieger "Vier Monate, drei Wochen, zwei Tage", sowie Julian Schnabels ebenfalls schon an der Côte d’ Azur präsentierter "Le scaphandre et le papillon" laufen hier ebenso wie Paul Haggis Venedig-Beitrag "In Valley of Elah" oder Pascale Ferrans "Lady Chatterley", der in der Schweiz schon anlief und Anfang November auch in Österreich starten soll.

Die Franzősin Ferran verzichtet in ihrer Adaption von D.H. Lawrences 1928 erschienenem Roman auf alles Voyeuristische. Zurückhaltend erzählt sie von der gesellschaftlichen Enge im Upper-Class England der 1920er Jahre und der langsamen Befreiung und Selbstfindung der Ehefrau eines seit dem Ersten Weltkrieg gelähmten Bergwerksbesitzers. Steht am Beginn von Lady Chatterleys Beziehung zum Waldaufseher Parkin nur das körperliche Verlangen, so entwickelt sich daraus langsam eine innige Liebe. Statt auf Worte und Musik vertraut Ferran in dem 168 Minuten langen und sehr langsamen Film auf brillante Bilder der Natur und deren Geräusche vom Vogelgezwitscher über das Rauschen der Blätter bis zum Plätschern des Wassers. Druch diese intensive Beschwörung dieser Kulisse wird die Natur zur Metapher für Freiheit und Sinnlichkeit, die in Kontrast nicht nur zu den gesellschaftlichen Normierungen, sondern auch zum Rationalismus und der Technikgläubigkeit von Lady Chatterleys Mann und seiner Zeit stehen.

Eingeengt durch ihre Erziehung ist auch die Bangladeschi Nazneen in Sarah Gordons Spielfilmdebüt "Brick Lane". Ihre Mutter hat ihr immer wieder eingeimpft, dass sie nicht gegen das Schicksal ankämpfen soll, und dies befolgt Nazneen auch, als sie mit 17 Jahren nach London verheiratet wird. Den älteren Gatten liebt sie zwar nicht, fügt sich aber ohne zu klagen in die Ehe, und ist ihren Tőchtern eine fürsorgliche Mutter. Immer träumt sie von einer Rückkehr in die Heimat und zu ihrer Schwester, doch muss sie am Ende erkennen, dass ihre Heimat inzwischen England ist. Als der Gatte nicht zuletzt aus Angst vor dem Rassismus, der nach den Anschlägen vom 11. September auflodert, beschliesst nach Bangladesch zurückzukehren, will Nazneen sich wiederum fügen und erhebt erst – und damit auch erstmals - ihre Stimme, als die ältere Tochter sich massiv den Plänen des Vaters widersetzt.

Geradlinig, aber sehr einfühlsam und mit grosser Empathie erzählt Sarah Gordon. Nazneens Schicksal bewegt nicht nur durch die exzellente Hauptdarstellerin, sondern auch durch die bruchlose runde Inszenierung. Jede Einstellung ist sorgfältig mit überlegter Farb- und Lichtdramaturgie gestaltet. Ohne Damatisierung schleichen sich so langsam, aber nachwirkend die Emotionen ein. Űber das Einzelschicksal hinaus wird dabei nicht nur eindrücklich deutlich, dass Glück nur möglich ist, wenn man seine eigenen Bedürfnisse und Gefühle nicht verdrängt, sondern äussert und sich für ihre Verwirklichung einsetzt, sondern auch, was es heisst in der Fremde zu leben und wie lange und intensiv die Sehnsucht nach der alten Heimat, die nicht mehr die eigene ist und durch eine neue ersetzt werden muss, nachwirkt.

Bricht in "Brick Lane" in Gedanken immer wieder ein anderer geographischer Raum in die reale Welt der Hauptfigur herein, so ist es in "Emotional Arithmetic", die Vergangenheit, die die Gegenwart bestimmt. Dem Holocaust ist Melanie dank des Einsatzes von Jacob vor 40 Jahren als Kind entkommen, hat dabei aber ihren Retter und ihren gleichaltrigen Freund Christopher aus den Augen verloren. Nach aussen scheint sie mit Gatte, Sohn und Enkel ein glückliches Leben in ihrem Haus an einem See in Quebec zu führen, doch Depressionen plagen sie. Als Jacob und Christopher, die sie jahrzehntelang für tot hielt, zu Besuch kommen, kommen alle drei nicht umhin sich einer Vergangenheit zu stellen, die auch das Leben von Melanies Familie belastet.

Konzentriert auf das Haus am See als Schauplatz, einen Tag als Handlungszeitraum und die sechs Figuren entwickelt der Kanadier Paolo Barzman ein bewegendes Drama über die Notwendigkeit die Vergangenheit nicht zu verdrängen, sondern sich ihr zu stellen und sie zu verarbeiten. Wie in "Brick Lane" wird auf Dramatisierung verzichtet. Barzman vertraut ganz auf die Stars Susan Sarandon, Max von Sydow, Christopher Plummer und Gabriel Byrne, denen er durch den ruhigen Erzählrhythmus und lange Einstellungen viel Raum und Zeit lässt ihre Figuren zu entwickeln. Visuell überzeugend stellt er dabei den dűsteren schwarzweissen Erinnerungsfetzen an das KZ-Ǘbergangslager bei Paris den prachtvollen Indian Summer gegenüber, der für die Schönheit des Lebens, aber auch für seine Vergänglichkeit steht und somit zum Lebensgenuss auffordert.

Als eine der Entdeckungen des Festivals von San Sebastian muss zweifellos Felix Randaus "Die Anruferin" gelten. Noch bevor man ein Gesicht sieht, hört man eine Kinderstimme, die am Telefon ihre Gesprächspartner bittet, ihr eine Geschichte zu erzählen – keine lustige, sondern eine spannende. Als die Kamera schliesslich dem Telefonkabel entlang zum Gesicht der Sprecherin vorgedrungen ist, ist die Verstörung des Zuschauers einigermassen tief: Kein Kind, sondern eine rund 30jährige Frau sitzt hier am Telefon. Mit einer knappen Bildsprache, einem direkten Zugriff auf die Personen und gestützt auf zwei exzellente Hauptdarstellerinnen (Valerie Koch, Esther Schweins) entwickelt Felix Randau vom Vorspann an grossen Drive. Nie lächerlich, sondern beklemmend ist diese psychologische Studie einer aufgrund ihrer Kindheit traumatisierten Frau. Zu Hause bei der Pflege der bettlägerigen Mutter zwischen Fürsorge und Aggressionen schwankend sehnt sie sich verzweifelt nach Wärme und Zuwendung, will sich aber niemandem anvertrauen. Das Telefon ist dafür ein ideales Mittel, kann sie doch einerseits dadurch selbst anonym bleiben und verfügt andererseits dadurch über die totale Kontrolle. Problematisch wird es freilich, als Irm – schon der Name wirkt amputiert – in der Wirklichkeit der Bibliothekarin Sina begegnet, mit der sie in ihrer Rolle als todkrankes Kind telefoniert hat. – Es entwickelt sich zwar eine labile Freundschaft, doch irgendwann wird Irm ihre Doppelrolle offenbaren müssen, ihre Traumatisierung überwinden müssen und lernen müssen, sie selbst zu sein.