Scharfe Attacken gegen Bürgertum und Kirche

Mit zwei surrealistischen Filmen begann Luis Buñuel Ende der 1920er Jahre seine Laufbahn als Filmregisseur und bis zu seinem Spätwerk in den 70er Jahren des letzten Jahrhunderts finden sich in seinen Filmen immer wieder surrealistische Momente. – Selbstzweckhafte Spielereien sind seine Traumsequenzen, seine Verzerrungen gesellschaftlicher Konventionen und kirchlicher Praxis aber nie, sondern stehen immer im Dienst der Kritik an "einer Welt, die nicht die beste aller möglichen ist". – Das Österreichische Filmmuseum widmet diesem Monument des Kinos des 20. Jahrhunderts eine Retrospektive.

"Ein Balkon in der Nacht. Ein Mann schärft sein Rasiermesser nahe am Balkon. Der Mann betrachtet den Himmel durch die Scheiben und sieht … eine schmale Wolke, die auf den Vollmond zutreibt. Dann: der Kopf eines jungen Mädchens mit weit geöffneten Augen. Dem einen Auge nähert sich die Klinge des Rasiermessers. Jetzt zieht die schmale Wolke vor dem Mond vorbei. Die Klinge des Rasiermessers zerschneidet das Auge des jungen Mädchens."

Das Drehbuch zu einer berühmtesten Szenen der Filmgeschichte, die und auch 80 Jahre später immer noch zu den schockierendsten gehört. 1928 erregte der am 22. Februar 1900 im spanischen Calanda geborene Luis Buñuel in Paris mit dem experimentellen Kurzfilm "Un chien andalou" (1928), den er zusammen mit dem Maler Salvador Dali gedreht hatte Aufsehen. – Zum Erstaunen und auch zur Enttäuschung Buñuels waren die Pariser Intellektuellen aber weniger entsetzt als vielmehr begeistert über die "images choc" dieses Films, zu denen auch aus einer Handfläche kriechende Ameisen, ein Mädchen, das mit einem Stock eine abgeschnittene Hand zu sich heranzuziehen versucht oder zwei Konzertflügel, auf denen verwesende Eselskadaver liegen, gehören.

Auch mit seinem folgenden, nach den gleichen Prinzipien gedrehten Kurzfilm "L´age d´or" (1930), wollte Buñuel das Publikum verstören, verschärfte aber die direkten Angriffe gegen Kirche, Militär und Familie. Eine "normale" Handlung gibt es nicht, da die Geschichte einer "amour fou", für die Surrealisten und Buñuel der Inbegriff der absoluten, alle Konventionen verachtenden Liebe mehrfach unterbrochen und kommentiert wird. Institutionen werden heftig attackiert, wenn eine Christusfigur als Orgienteilnehmer und Mörder auftritt, die Hauptfigur einen Kriegsblinden mit Füßen tritt oder die Gastgeberin einer vornehmen Gesellschaft ohrfeigt. – Rasch wurde "L´age d´or" zum Skandal, passierte zwar die Zensur, wurde aber verboten als es zu Zwischenfällen bei Vorführungen kam.

Das gleiche Schicksal widerfuhr auch dem dokumentarischen Essayfilm "Las Hurdes" (1932), in dem Buñuel schonungslos das Leben der Landbevölkerung in der ärmsten Region Spaniens schildert. Diese dokumentarische Qualität, aus der sich eine scharfe Gesellschaftskritik entwickelt, ist auch eine Stärke von "Los Olvidados" (1950), den Buñuel nach einem Aufenthalt in den USA und zehn Jahren Auftragsarbeiten in Mexiko realisieren konnte. Ohne jede Hoffnung schildert der Spanier darin das trostlose Leben von Straßenjungen in den Elendsvierteln von Mexico City. Der blinde Bettler verhält sich hier genauso schäbig wie die Kinder, die ihn verhöhnen. – Ohne zu moralisieren zeigt Buñuel Elend und Gemeinheit. Den Realismus bricht er dabei mehrfach durch Traumsequenzen, die auch in seinen folgenden Filmen wie in "El" (1952) oder "La vida crimal de Archibaldo de la Cruz" (1955) eine zentrale Rolle spielen.

Nach dreißig Jahren erstmals wieder in Spanien drehen konnte Buñuel 1961. Doch "Viridiana" (1961) wurde in seinem Entstehungsland sofort nach seinem Erscheinen verboten. Scharf wird in der Geschichte der Novizin Viridiana, die ein Asyl für Arme aufbauen möchte, aber von diesen nur ausgenützt wird, die Kirche kritisiert und legendär ist die Szene, in der sich eine Gruppe von Bettlern und Betrunkenen, musikalisch unterlegt von Händels "Hallelujah", nach dem Vorbild von Da Vincis "Abendmahl" gruppiert. – Wie schon zuvor im Porträt des scheiternden Priesters "Nazarin" (1958) formuliert Buñuel auch hier sein Misstrauen gegenüber dem Sinn der christlichen Caritas angesichts der sozialen Ungerechtigkeiten. – Gebete und Almosen nützen aus der Sicht des Meisterregisseurs nichts, wenn nicht die Welt insgesamt verändert wird.

In seinem in Frankreich entstandenen Spätwerk kehrt Buñuel zu seinen surrealistischen Anfängen zurück, lässt in "Belle de Jour" (1967), in dem eine frustrierte und gelangweilte Oberschichtenfrau ihre sexuellen Phantasien in einem Bordell auslebt, Traum und Wirklichkeit verwischen und in "La Voie lactée" (1969) die Pilgerschaft zweier Männer nach Santiago de Compostela zu einer Reise durch die Kirchengeschichte ausufern. Bei seinen letzten Filmen "Le charme discret de la bourgeoisie" (1972), "Le fantôme de la liberté" (1974) und "Cet obscur objet du désir" (1977) machen schon die Titel die gesellschaftskritische Stoßrichtung deutlich. – Der Ton freilich ist gelöster. Nicht mehr kämpferisch und aggressiv, sondern verspielt und mit der Gelassenheit des Altmeisters übt Buñuel, der am 29. Juli 1983 in Mexico-City starb, Kritik an der für ihn immer noch perversen bürgerlichen Gesellschaft.