Satyajit Ray - Ein indischer Neorealist

Nach dem Zweiten Weltkrieg rückten verstärkt überseeische Länder ins Blickfeld der europäischen und amerikanischen Cineasten. Nachdem Anfang der 50er Jahre das japanische Kino auf europäischen Filmfestivals entdeckt wurde, gelang dem Inder Satyajit Ray mit seinem Debüt "Pather Panchali" ein Welterfolg, dem er bis zu seinem Tod 1992 zahlreiche weitere herausragende Filme folgen ließ. Das Filmpodium Zürich und das Stadtkino Basel widmen dem indischen Meisterregisseur eine Retrospektive.

"Das Kino von Ray nicht gesehen zu haben, heißt, in der Welt zu sein, ohne die Sonne oder den Mond zu sehen" soll der japanische Meisterregisseur Akira Kurosawa über seinen indischen Kollegen gesagt heben. Satyajit Ray wurde 1921 in eine angesehene bengalische Künstlerfamilie geboren, studierte zunächst in Kalkutta, dann an der berühmten, von Rabindranath Tagore gegründeten Visva Bharati-Universität. Ab 1942 arbeitete er als künstlerischer Berater einer Werbefirma und als Buchillustrator. 1949 lernte er Jean Renoir kennen, der gerade in Indien "The River" drehte. Der Franzose ermutigte Ray zu eigenen Filmprojekten und 1952 begann er mit eigenen Mitteln und der Hilfe von Freunden mit den Dreharbeiten an seinem Spielfilm "Pather Panchali".

Drei Jahre arbeitete er an diesem fast ausschließlich mit Laiendarstellern besetzten ersten Teil der so genannten Apu-Trilogie, die er in den folgenden Jahren mit "Aparajito" (1957) und "Apur Sansar" (1959) abschloss. In einer vom italienischen Neorealismus beeinflussten Filmsprache erzählt Ray darin vom Heranwachsen eines um 1910 geborenen indischen Jungen, von seiner Kindheit in einem bengalischen Dorf über das Studium in Kalkutta und den Entschluss Schriftsteller zu werden, bis zu einer Lebenskrise nach dem Tod seiner Frau.

Hinter diesen äußeren Ereignissen werden aber auch die sozialen Gegensätze und die Not der Landbewohner sowie der Zusammenprall von traditionellem und modernem Indien geschildert. Auf Dramatisierung verzichtet Ray, er konzentriert sich auf die detailreiche Schilderung des alltäglichen Lebens. Der Erzählrhythmus ist dabei episch und langsam, entwickelt aber durch exakte Schilderung des Milieus und der Charaktere große Dichte.

In den folgenden Filmen arbeitete Ray vermehrt im Studio, verfeinerte seinen Stil und legte mehr Wert auf Dekor und Lichtführung. Während er sich in "Devi" (1960) mit dem Problem des religiösen Aberglaubens beschäftigte, thematisierte er in "Mahanagar" (1963) und "Charulata" (1965) die Emanzipation der Frau. Anfang der 70er Jahre entstanden dann mit "Aranyeer din-ratri" ("Tage und Nächte im Wald", 1970), "Pratidwandi" ("Der Gegner" 1970) und "Seemabadha" ("Gesellschaft mit beschränkter Haftung", 1971) drei Filme, deren Hauptpersonen durch ihr Verhältnis zur Arbeit definiert werden. In Analogie zur "Apu"-Trilogie werden diese Filme auch als neue Trilogie der politischen und sozialen Bestandsaufnahme bezeichnet.

Nach zwei Silbernen Löwen bei der Berlinale für "Mahanagar" und "Charulata" gewann Ray 1973 mit dem epischen Drama "Ashani Saket" ("Ferner Donner") den Goldenen Bären. Vor dem Hintergrund der Hungersnot in Bengalen im Jahr 1943 erzählt Ray von einem Brahmanen, Lehrer und Arzt. Dieser kann mit Hilfe eines reichen Bauern eine Dorfschule ins Leben rufen, doch mit Ausbruch der Hungersnot bricht um ihn herum die soziale und moralische Ordnung des Dorfs zusammen. Trotz der schrecklichen Ereignisse ist "Ashani Saket" aber kein niederschmetternder Film, denn der Gefährdung des Menschen stellt Ray die bleibenden Schönheiten der Natur gegenüber.

Krankheitsbedingt konnte der indische Meisterregisseur in den 80er Jahren nur zwei Filme drehen, meldete sich Ende dieses Jahrzehnts und Anfang der 90er Jahre mit einer indischen Adaption von Ibens "Ein Volksfeind" ("Ganashatru",1989), "Shakha Proshakha ("Ein Baum und seine Zweige", 1990) und "Agantuk" ("Der Besucher", 1991) aber noch einmal zurück.

Schon auf dem Sterbebett liegend wurde er 1992 mit dem höchsten indischen Zivilorden sowie mit dem Oscar für sein Lebenswerk ausgezeichnet.