Santiago Sierra ist für seine drastischen Performances weltweit bekannt: Er ließ politische Flüchtlinge gegen einen Mindestlohn stundenlang einen einseitig an der Wand befestigten Balken aus Holz und Teerpappe stützen; er stellte 21 rechteckige Module aus menschlichen Fäkalien in der Londoner Lisson Gallery aus, welche von indischen Latrinenreiniger erstellt wurden; er veranlasste die Befüllung des Erdgeschosses des Ausstellungshauses der Kestnergesellschaft mit 320 m3 schlammigen Material; er ließ Arbeiter stundenlang an einem Holzbalken angebunden verharren, er warf das aus einer Futtermischung nachgeformte Griechenlandmodell sieben Schweinen zum Fraß vor.
Der in Madrid lebende Spanier hat es sich zur Aufgabe gemacht, die strukturelle Gewalt politischer und wirtschaftlicher Systeme schmerzhaft deutlich zur Anschauung zu bringen. Tat dies einer der berühmtesten Protagonisten der Arbeiterbewegung, Karl Marx, noch aus der Motivation heraus das Klassenbewusstsein des Arbeiters zu stärken, um ihn als Antrieb für soziale Umstrukturierungen zu gewinnen, verfolgt Sierra eine andere Intention. Er reflektiert vielmehr das Wesen von Arbeit in Beziehung zu seiner Wertigkeit innerhalb einer kapitalistischen Gesellschaft. Dafür lässt er Menschen stumpfsinnige Arbeit verrichten, die keinen höheren Nutzen erfüllt, als schlichtweg arbeiten zu lassen. Damit legt Sierra die Widersinnigkeit der Annahme offen, dass die Würde des Menschen aus der von ihm durchgeführten Arbeit entstamme, wenn diese zu Reichtum und somit zu einer Verbesserung sozialer Bedingungen führe.
Ein Blick auf die 1971 gegründete Kunsthalle Tübingen lässt wesentliche Grundlagen für Sierras Werk zum Vorschein kommen: Hier kamen in den frühen Jahren die wichtigsten Positionen von Minimal Art, Konzeptkunst und Fluxus zur Ausstellung, die für ihn so prägend sind. Der Prozesskünstler Franz Erhard Walther ist dabei eine zentrale Persönlichkeit. Sierra besuchte an der Hochschule für Bildende Künste in Hamburg Anfang der 1990er Jahre seine Klasse als Gasthörer. Walther begründet im Frühjahr 1972 eine lange Reihe experimenteller Ausstellungen zeitgenössischer Kunst in der Kunsthalle Tübingen, an deren vorläufigem Endpunkt nun Sierra steht.
Zu sehen war damals unter anderem Walthers berühmter 1. Werksatz, eine 58-teilige Serie aus textilen Stücken, die zusammengerollt auf dem Boden liegend, den Rezipienten in die Pflicht nimmt und ihn zum Akteur in einem Spiel abstrakter Kompositionsstrukturen werden lässt. Walther zielt darauf ab, das Kunstwerk aus der musealen Lagerform zu befreien und in eine Handlungsform zu überführen. Wie bei Walther, sind in Sierras Aktionen sowohl Objekte als auch Personen involviert. Neben dem Künstler generieren die Teilnehmer und letzten Endes auch das Publikum das Werk, in welchem die Vorgänge des wirtschaftlichen Systems spürbar gemacht werden.
Zum ersten Mal zeigt nun die Kunsthalle Tübingen in Zusammenarbeit mit der Sammlung Falckenberg - Deichtorhallen Hamburg die skulpturalen, filmischen und fotografischen Relikte von Sierras wichtigsten Performances in einer retrospektiv angelegten Ausstellung.
Santiago Sierra - Skulptur, Fotografie, Film
23. März bis 16. Juni 2013