Olivier Assayas. Das Gesamtwerk

Mit zwei neuen Publikationen und einer Gesamtschau seines bisherigen Schaffens würdigt das Österreichische Filmmuseum einen Künstler, der zu den großen Ausnahmeerscheinungen im europäischen Kino der letzten drei Jahrzehnte zählt. Für Olivier Assayas ist das Kino die Kunst des beständigen Aufbruchs, der Gestaltung einer Unruhe – entsprechend souverän verweigert sich sein Werk jeglicher Einordnung in eine Schublade. Dass es dennoch eine Art Assayas-Klischee in der Rezeption seiner Arbeiten gibt, ist eine andere Sache, auf die er in vielfältiger Weise reagiert.

Das typisch "Französische", Intimistische, das an seinem Kino gern betont wird, bricht sich stets an Assayas’ präzisem Blick auf die Gegenwart – die technologischen, ökonomischen, sozialen und psychischen Bedingungen der Globalisierung. Der scheinbar extreme Kontrast zwischen Werken wie "Désordre" (1986) und "demonlover" (2002) oder "Irma Vep" (1996) und "L’Heure d’été" (2008) ist ein integraler und hochgradig persönlicher Aspekt seines Schaffens.

Assayas wurde 1955 in Paris geboren und stammt aus einer Familie mit ungarischen und italienischen Wurzeln. Sein Vater (Künstlername: Jacques Rémy) war ein vielbeschäftigter Drehbuchautor in der Film- und TV-Branche, aber der Weg des Sohns führte auf ganz anderen Wegen zum Kino: von der Malerei (seiner "ersten Kunst") über das Eintauchen in Punk- und Popkultur und in die Schriften von Guy Debord bis hin zum eigenen Schreiben. Als Kritiker bei den Cahiers du cinéma zwischen 1980 und 1985 war er u.a. für einige legendäre Sonderhefte mitverantwortlich. So demonstrierte er etwa in "Hong-Kong cinéma" (1984) ein Verständnis für dieses Kino, das weit über die damals üblichen Sichtweisen hinausging. Auch danach blieb Assayas dem Schreiben treu. Er veröffentlichte ein Interviewbuch mit Ingmar Bergman (1990) und eine Kurzmonografie über Kenneth Anger (1998), die man zusammen mit seinem Film "HHH: Portrait de Hou Hsiao-hsien" (1997) als eine cinephile Trilogie verstehen kann. 2002 verfasste er einen kleinen autobiografischen Band, den das Filmmuseum nun in einer englischen Ausgabe vorlegt: "A Post-May Adolescence" – ein heimlicher Begleittext zu Assayas’ kommendem Film "Aprés-Mai".

Seit "Une nouvelle vie" (1993) sind alle Assayas-Filme Versuche, die Welt mittels Kino buchstäblich neu zu erfassen, zu berühren, sich ihr "hinzugeben". Zugleich reflektiert er darin gerne spezifische Filmformen und Kinoepochen. Drei augenscheinliche Beispiele: "Les Destinées sentimentales" (2000) ist sein historisches Familienepos, "Clean" (2004) sein New-Hollywood-Film, "Carlos" (2010) sein Euro-Politthriller. Keines dieser Werke begnügt sich mit einer bloßen Hommage – es sind Akte angewandten Selbst(er)findens, Positionsbestimmungen, Häutungen, und damit immer vorläufig, brüchig. Es sind Fluchtbewegungen zu sich selbst. Wenn es in seinen "französischeren" Filmen wie "L’Enfant de l‘hiver" (1989), "Fin août, début septembre" (1998) oder "L"Heure d"été" immer wieder um Momente des Umbruchs, der Wandlung geht, um einen Zustand des Bebens zwischen Angst und Hoffnung, dann sind die "untypischen", allen voran sein fabelhafter "film maudit" "demonlover" und der B-Thriller "Boarding Gate" (2007), Formgebungen dieses Gefühls.

Der Schlüssel zu Assayas" Schaffen ist das meisterliche Doppel "L"Eau froide" (1994) und "Irma Vep": Ersterer huldigt der Nacht als Zone der Freiheit, dem Hören von Musik, dem Tanzen und Abhängen, sich Treibenlassen, Sterben; letzterer dem Kino als Illusionsmaschine, die bei entsprechender Anwendung mitten in die Wirklichkeit führt. Mit "L"Eau froide" fand Assayas zur einzigartigen Flüssigkeit des Blicks, jenem lauschenden Gleiten, das sein Kino seither charakterisiert; in "Irma Vep" wiederum ließ er zum ersten Mal seiner Lust am formalen Experiment freien Lauf, kulminierend in einer Schlussapotheose zum Thema Film, mit der Assayas das Medium für sich noch einmal erfindet. "L"Eau froide" war vielleicht auch der Abschied von einem Menschen, der man nicht mehr sein kann, Irma Vep der Ausdruck eines Akzeptierens desjenigen, der man nun geworden war. Und die Bewegung geht weiter.

Olivier Assayas wird zum Auftakt der Retrospektive im Filmmuseum anwesend sein und für Publikumsgespräche zur Verfügung stehen. Das von Kent Jones herausgegebene Buch "Olivier Assayas" sowie der autobiografische Band "A Post-May Adolescence" erscheinen als Nr. 16 und 17 der FilmmuseumSynemaPublikationen und werden ebenfalls am 11. Mai vorgestellt.

Olivier Assayas. Das Gesamtwerk
11. Mai bis 17. Juni 2012