Neue Sitten

30. September 2019 akakoko
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Die deutsche Politikerin und Bundestagsabgeordnete, Ex-Bundesministerin für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz und Ex-Fraktionsvorsitzende der Grünen Renate Künast, 63, hat am 9. September vor der 27. Zivilkammer des Landgerichts Berlin verloren. Sie hatte von Facebook Auskunft über die Daten von 22 Nutzern verlangt, die sie unter dem gehässigen Posting eines rechten Bloggers beschimpft hatten. Der Netzaktivist hatte behauptet, Künast hätte sich 1986 im Berliner Abgeordnetenhaus mit einem Zwischenruf in einer Debatte für Sex mit Kindern ohne Gewaltanwendung ausgesprochen. Das Gericht erkennt zwar an, dass der Blogger den Zuruf aus dem Zusammenhang gerissen und um eigene Worte erweitert hat, erklärt aber, die Politikerin müsse sich die groben Reaktionen gefallen lassen, „weil ihr Zwischenruf von der Öffentlichkeit als Zustimmung zur vom nordrhein-westfälischen Verband von Bündnis90/Die Grünen seinerzeit angestrebten Entkriminalisierung gewaltfreier pädophiler Handlungen verstanden wurde“. Also nicht, was Künast seinerzeit tatsächlich gesagt und gemeint hat, sondern was eine damals den Grünen gegenüber größtenteils böswillige Öffentlichkeit „verstanden“ hat und bis heute von Rechtsradikalen weiterverbreitet wird, ist maßgeblich für die Rechtsfindung! Der Beschluss eines Dreiersenates von zwei Richterinnen und einem Richter stufte folglich die Beschimpfungen als „hinnehmbare Beiträge zu einer Sachdiskussion“ ein und ging bei dieser Einschätzung auch ins Detail. Einige Beispiele:

Die Äußerung „Knatter sie mal einer so richtig durch, bis sie wieder normal wird“ sei „sicherlich geschmacklos“, aber doch „sachliche Kritik mit dem Stilmittel der Polemik“, welche die Antragstellerin „nicht, wie sie dies meint, zum Gegenstand sexueller Fantasien“ mache. In der Bezeichnung „Pädophilen-Trulla“ kann „keine Beleidigung nach § 185 StGB erblickt werden“. „Die Alte hat doch einen Dachschaden“ sei „nicht losgelöst von der Äußerung der Person der Antragstellerin selbst“ (was auch immer das heißen mag). Ähnlich sieht das Gericht „Pfui, du altes grünes Dreckschwein“, „Der wurde in den Kopf geschissen, war genug Platz da kein Hirn vorhanden ist“, „Geisteskranke“ und „Stück Scheiße“. „Die Bezeichnung der Antragstellerin als „hohle Nuss, die als Sondermüll entsorgt gehört“ wird immerhin als „überspitzte Kritik“ empfunden. Und „haarscharf an der Grenze des Hinnehmbaren“ sei die „Drecks Fotze“, weil der alles auslösende Zwischenruf 1986 ja auch sexuell konnotiert gewesen sei: „Dass mit der Aussage allein eine Diffamierung der Antragstellerin beabsichtigt ist, ohne Sachbezug zu der im kommentierten Post wiedergegebenen Äußerung, ist nicht feststellbar“, und eine Beleidigung sei „Drecks Fotze“ auch nicht. Aus der Fehlschreibung „Ferck du Drecksau“ liest Künast „Verrecke, du Drecksau“ heraus, das Gericht tippt auf „Ferkel, du Drecksau“.

Man kann nicht gerade sagen, dass das Urteil kein Aufsehen erregt hätte. Facebook, das in seinen deutschen Löschzentren immerhin 2000 Mitarbeiter beschäftigt, findet natürlich alle beanstandeten Kommentare „zulässige Meinungsäußerungen“, erklärt aber, strenger gegen Hassrede vorgehen zu wollen. Die Berliner „Morgenpost“ veröffentlichte den Gerichtsbescheid, Künasts Anwalt Severin Riemenschneider kündigte die Anfechtung des Urteils an und Künast selbst sagte zur dpa: „Der Beschluss des Landgerichts Berlin sendet ein katastrophales Zeichen, insbesondere an alle Frauen im Netz, welchen Umgang Frauen sich dort gefallen lassen sollen.“ Die Anwaltskanzlei Bernhard Korn & Partner aus dem Rhein-Main-Gebiet hält das Urteil für unvertretbar und politisch motiviert („Das Urteil hat uns geradezu empört, weil der Verdacht nahe liegt, dass sich die Richter aufgrund ihrer politischen Überzeugungen zu einem schlicht unvertretbaren Urteil entschieden haben“) und stellt Strafanzeige gegen die Richter wegen des Verdachts der Rechtsbeugung. Im „Tagesspiegel“ schrieb dazu der Journalist Jost Müller-Neuhof: „Das Ganze ist ein politisches Projekt. Als viel Geschmähte tritt Künast in einer starken Rolle auf, der Opferrolle. Mit ihrem Antrag möchte sie ihrem Anwalt zufolge Stärken und Schwächen des geltenden Telemediengesetzes eruieren, weshalb auf eine Strafanzeige verzichtet wurde. Finanziert wird das Vorhaben von der gemeinnützigen GmbH ,Hate Aid’, die ihr Anliegen im Namen trägt.“

Einer Politikerin kann man schlecht vorwerfen, ein politisches Projekt zu betreiben. Für den juristisch Interessierten stellt sich letztlich allerdings nur die Frage: Ist „Drecksfotze“ jetzt ein Beleidigung oder nicht?