Multiplex und Programmkino – Segregation im Kinobereich

9. Juli 2007 Walter Gasperi
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Mit der Entwicklung der Filmsprache und gleichzeitiger Zunahme des Verlangens nach oberflächlichem Entertainment wird die Kluft zwischen Mainstream-Kino und künstlerisch anspruchsvollem Film größer. Schärfere Trennlinien führen auch zu einer stärkeren Differenzierung des Publikums und der Spielstätten: Den Großkinos stehen die Programmkinos gegenüber, Mischformen scheinen langsam zu verschwinden.

Solange im Kino beinahe ausschließlich linear erzählt wurde, also bis etwa 1960, fielen Kommerz und Kunst vielfach in eins: Filme von Hitchcock, Ford, Hawks oder Sirk – ganz allgemein das klassische Hollywoodkino – waren und sind zumeist sowohl attraktiv für ein großes Publikum als auch große Kunst. Auch Filme von Bergman, Fellini, Bunuel und Co. erzielten respektable Besucherzahlen, da das Kinopublikum damals noch vorwiegend ein kulturell interessiertes erwachsenes war.

Um 1960 erfolgte im Kino aber die Wende zur Moderne. Bewegungen wie die Nouvelle Vague, der Neue Deutsche Film, das Free Cinema in England oder das Cinema Novo in Brasilien erprobten neue Erzählstrategien, auf die allerdings nur ein Randpublikum ansprach und anspricht.

Zudem lässt sich - grob gesprochen - auch in dem Maße, in dem sich die Anzahl der Haushalte mit TV-Gerät zunahm, eine bis heute anhaltende Verschiebung beim Kinopublikum feststellen: Kino wurde zum Freizeitvergnügen für Jugendliche, das ihnen zudem einen Freiraum von den Erwachsenen bot, ältere Besucherschichten zogen und ziehen vielfach den Filmkonsum via TV-Besuch vor.

Die Veränderung der Besucherschicht führte aber auch zu einem Wandel in den Erzählweisen des Mainstream-Kinos. Auf klassisches Storytelling spricht das seit den 1970er Jahren zunehmend jüngere Publikum immer weniger an. Ausnahmen wie "Titanic" (1997) oder die "Herr der Ringe"-Trilogie (2001-2003) bestätigen eher diese Regel. – Fun und oberflächliches Spektakel sind angesagt und Hollywood befriedigt dieses Bedürfnis mit so genannten Blockbusters, die optisch und akustisch von schnittigen Autos über gestylte junge Frauen und einen fetzigen Soundtrack bis zu atemberaubenden Actionszenen und Special-Effects viel bieten, aber inhaltlich hohl sind.

In dem Maße, in dem die Schere zwischen Event-Kino und Arthouse-Film aber auseinander geht, kommt es auch zu einer durch neue Kinobauten gesteuerten Segregation des Publikums: 1979 wurde das erste Multiplex weltweit in Toronto eröffnet, im deutschsprachigen Raum schießen diese Großkinos, die nicht nur Filme, sondern auch Spieltische, mehrere Bars und teilweise auch Discos bieten, seit den 1990er Jahren aus dem Boden. Gezeigt wird in diesen "Konsumtempeln", die vorwiegend von Jugendlichen besucht werden, zum Großteil kurzlebige Unterhaltungsware von der Stange, während Arthouse-Filme von einzelnen Kleinkinos, Filmclubs oder Programmkinos und in Deutschland zudem von den Kommunalen Kinos gepflegt werden.

Mit Fortsetzung dieses Trends wird sich der Antagonismus Multiplex hier, Programmkino dort verstärken und Kleinkinos, die einen Mittelweg zu fahren versuchen, dürften weiter an Publikum verlieren und letztlich auf der Strecke bleiben, da sie einerseits mit der Eventkultur, die ein Großkino bietet, nicht mithalten können, andererseits auch die Qualitätsansprüche, die die Anhänger der "hohen Filmkunst" stellen, nicht erfüllen können. Wie im Bereich der Lebensmittelläden der kleine Gemischtwarenladen gegen den Supermarkt nur durch stärkere Spezialisierung, Fokussierung auf Nischen und spezielle Serviceleistung bestehen kann, wird auch für Kleinkinos über kurz oder lang der Weg wohl nur über eine klarere Positionierung, das heißt Entwicklung in Richtung Programmkino, führen.

Programmkino heißt aber nicht nur, dass im Gegensatz zum Multiplex künstlerisch wertvolle Filme gezeigt werden, sondern dass – wie der Name schon sagt - auch längerfristige (in der Regel jeweils für einen Monat) Programme erstellt werden. Wie in anderen Kunstbereichen wird dabei auch ein Programmheft erstellt, in dem die Filme nicht marktschreierisch, sondern differenziert vorgestellt werden. Film wird nicht als Ware, sondern als Kunstwerk betrachtet, was auch dadurch zum Ausdruck kommt, dass in der Regel nicht synchronisierte Versionen, sondern (untertitelte) Originalfassungen gezeigt werden.

Die konsequente Programmierung ermöglicht es auch Schwerpunkte zu setzen, Filme in einen historischen, geographischen, thematischen oder biographischen Kontext zu stellen, aber auch die Filmgeschichte zu pflegen, und so nicht nur ein vertieftes Filmerlebnis zu ermöglichen, sondern auch zur filmischen Schulung des Zuschauers beizutragen. Im Mittelpunkt steht somit nicht bloßes Konsumieren, sondern Aktivierung des Zuschauers in Richtung gesellschaftspolitisches Denken und Handeln.

Daraus ergibt sich auch, dass Programmkinos durch gezielte Aktivitäten im Bereich der Jugendarbeit und in Zusammenarbeit mit Schulen eine zentrale Rolle bei der "audiovisuellen Schulung" nicht nur spielen können, sondern spielen müssen. Durch Vor- und Nachbereitung des Filmbesuchs könnte hier einerseits zum bewussten und reflektierten Umgang mit dem Medium beigetragen werden, andererseits auch durch die Filmauswahl zum kritischen Hinterfragen gesellschaftlicher Realitäten animiert werden und das allgemein kritisierte hemmungslose Konsum- und Fundenken durchbrochen werden.