Atemberaubender Auftakt im Bregenzer Festspielhaus beim zeitgenössischen Tanzfestival, das alljährlich internationale Weltklasse-Compagnien lädt. Der belgisch-französische Choreograf Damien Jalet und der japanische bildende Künstler Kohei Nawa kreierten für das Ensemble des Théâtre National de Bretagne aus Rennes eine neue Kunstform, die menschliche Anatomie an ihre Grenzen bringt. Unbeschreiblich. Trotzdem ein Versuch.
Minuten sind lang wenn die Bühne dunkel bleibt, sich nur eine helle Erhebung in der Mitte abzeichnet und apokalyptische Musik – eine fesselnde Partitur des japanischen Komponisten Marihiko Hara – den Raum füllt. Unmerklich erscheinen symmetrisch dazu zwei geometrische Skulpturen, immer deutlicher zeichnen sich organische Linien darauf ab. Das Publikum verfällt beinahe in kollektive Trance. Die Gebilde spiegeln sich auf der Bodenfläche. Plötzlich plumpst ein Tentakel aus der bislang bewegungslosen Plastik, Wasser spritzt auf, es lösen sich abstrakte Körper heraus, Wesen mit zwei Beinen, ohne Kopf, Wesen mit vier Beinen und sechs Tentakeln die zu Flügelschlägen ausholen. Magische Transformation, entmenschlichte Wesen, die neue hervorbringen, verschmolzen, verschlungen.
Eine Assoziation mit den auf Personengröße herausgezoomten – kürzlich bei der Ausstellung im MAK Wien gesehenen – Mikroorganismen der Künstlerin Sonja Bäumel kommt in den Sinn. Die evolutionären Verwandlungen auf der Bühne lassen nur noch staunen. Es konfigurieren sich Gruppen, die korrespondieren, es scheren Figuren aus, manchmal sind Muskeln und Sehnen am Torso durch Licht und Schatten bildhauerisch dermaßen ausgearbeitet, dass die Erinnerung an den Rücken des Denkers (Le Penseur) von Auguste Rodin naheliegt. Die Grenzen von Identität, des Geschlechts, der Rasse, der Spezies verwischen. Unvorstellbare Anspannungen, Streckungen, Dehnungen und Verrenkungen verlangen absolute Körperbeherrschung, lassen ungekannte Figuren zwischen Mythologie und Natur entstehen.
Die Metamorphosen konzentrieren sich zum Ende hin auf der kraterartigen weißen Insel. "Vessel" bedeutet Schale oder Schiff. In Zeitlupe kommt es zum Showdown einer Geburt: der aufrechte Mensch zeigt zum ersten Mal sein Gesicht – die weiße zähflüssige Substanz (es ist Kartoffelstärke) rinnt von seinem Kopf über seinen Körper – um langsam darin unterzugehen. Dunkelheit. Unheimliche, unvergessliche, visuelle Metamorphose die mit eigener Vorstellungskraft weiterwirken will.
Dass eine Stunde vergangen ist, sagt die Uhr, das Gefühl ist zeitlos, atemberaubend.
Théâtre National de Bretagne – Vessel
Choreografie: Damien Jalet und Kohei Nawa
Szenografie: Kohei Nawa
Musik: Marihiko Hara und Ryuichi Sakamoto
Licht: Yukiko YoshimotoBregenzer Frühling 2023
18.3. Israel Galván Company – Seises
1.4. Richard Siegal, Ballet of Difference am Schauspiel Köln – XERROX VOL.2
15.4. Emanuel Gat Dance – LOVETRAIN2020
5.5. Akram Khan Company – Jungle Book reimagined
16./17.18.6. aktionstheater ensemble – Morbus Hysteria – Wir haben alle recht