Locarno 2015: Machos und verlorene Männer

Männer dominieren beim 68. Filmfestival von Locarno Piazza und Wettbewerb. Während die Griechin Rachel Athina Tsangari in "Chevalier" lustvoll mit dem Machotum abrechnet, zeichnen die Amerikaner Josh Mond in "James White" und Rick Alverson in "Entertainment" Bilder verlorener und verzweifelter Männer.

Ein "Big Shot" wie James Cagney als Gangster in "The Roaring Twenties" möchte der junge Balraj in Anurag Kashyaps "Bombay Velvet" in der indischen Metropole der 1960er Jahre werden und auch die Liebe der Jazzsängerin Rosie gewinnen.

Gekonnt orientiert sich Kashyap in seinem prächtig ausgestatteten und fotografierten Film am klassischen amerikanischen Gangsterfilm, aber auch an den Filmen von Martin Scorsese, dessen Cutterin Thelma Schoonmaker auch hier für den Schnitt verantwortlich zeichnet. Süffige – und teilweise auch sehr brutale – Unterhaltung wird hier geboten, auch wenn die Story sich in ausgetretenen Bahnen bewegt und man auch differenzierte Figurenzeichnung vergeblich sucht.

Nicht nur Männerfiguren wie diesem Balraj, sondern mit Männern überhaupt rechnet die Griechin Rachel Athina Tsangari in ihrem Wettbewerbsbeitrag "Chevalier" lustvoll ab. Am Ende eines Tauch- und Badeurlaubs in der Ägäis kommen die sechs männlichen Gäste einer Luxusjacht auf die Idee sich in einem Wettbewerb zu messen, um den besten Mann zu küren. Nicht nur für die Länge des männlichen Glieds erhält man hier mehr oder weniger Punkte, sondern auch Handy-Klingeltöne, Blutdruck und Cholesterinwerte werden verglichen und Lieder müssen vorgesungen werden.

Nach etwas zähem Beginn, in dem man erst Überblick über die Protagonisten gewinnen und erkunden muss, in welche Richtung "Chevalier" gehen soll, entwickelt sich so eine zunehmend witzige Komödie, die allerdings ganz vom Dialog und den Schauspielern lebt und die filmische Experimentierfreude, die Tsangaris Debüt "Attenberg" auszeichnete, völlig vermissen lässt.

Verzweifelter und dunkler sind da schon die Männer, die im Zentrum der Wettbewerbsfilme der Amerikaner Josh Mond und Rick Alverson stehen. Hautnah folgt Mond in "James White" der von Christopher Abbott intensiv gepielten, um die 35 Jahre alten Titelfigur. Statt sich einen Beruf zu suchen, besucht der New Yorker lieber Partys, schleppt Frauen ab oder macht Urlaub in Mexiko und wohnt bei seiner Mutter. Als bei dieser aber eine vermeintlich überwundene Krebserkrankung wieder ausbricht, ist James White gefordert, lernt Verantwortung zu übernehmen, sich um seine Mutter zu kümmern und sie beim Sterben zu begleiten.

Fiebrige Intensität erzeugt neben Abbotts Spiel auch die auf Schritt und Tritt dem Protagonisten folgende Kamera, vermittelt in hektischen Bewegungen dessen Haltlosigkeit, um im zweiten Teil ruhiger zu werden und in teilweise quälend langen Einstellungen Whites Wandlung und das langsame Sterben der Mutter zu dokumentieren.

Noch mehr als Abbott empfiehlt sich Gregg Turkington bislang für den Preis für den besten Darsteller. In Rick Alversons "Entertainment" spielt er einen Komiker, über dessen Witze niemand lachen kann und der längst in grenzenlosem Selbst-, Welt- und Menschenhass verfallen ist.

Wie bei Michelangelo Antonioni oder in Sofia Coppolas "Somewhere" spiegeln sich in den ruhigen langen Einstellungen der Wüstenlandschaften Südkaliforniens, eines Flughafenfriedhofs und eines ausgeweideten Flugzeugs, in dem man dem abgesehen von einer Szene namenlos bleibenden Komiker am Beginn begegnet, einer verlassenen Bergbaustadt und eines Ölfelds, die Leere und Ausgebranntheit dieses Mannes.

Keine Erklärung für die desolate Verfassung des Komödianten wird geliefert. Höchstens ahnen kann man, dass sie mit seiner Beziehung zu seinem Vater und zu seiner Tochter, die auf seine Anrufe nicht reagieren, zusammenhängt. Doch nicht nur er ist unfähig zur Kommunikation, auch sein Publikum wirkt dumpf und verloren und ein Cousin, der mit seinem gewaltigen Besitz an Land protzt, erweist sich im Grunde auch als zutiefst einsam.

Wie es praktisch keine dramaturgische Entwicklung gibt, sondern Alverson Szenen ziemlich lose aneindanderreiht, so gibt es auch keine Läuterung und keine Erlösung, außer dass der Komödiant im Finale seine kühl misanthropische Fassade nicht mehr aufrecht erhalten kann und bei einem Auftritt bei einer Geburtstagsfeier weinend zusammenbricht. – Kein unterhaltsamer, sondern ein zutiefst pessimistischer, aber in seiner konsequenten Inszenierung und im großartigen Spiel Turkingtons beeindruckender und trotz der unsympathischen Hauptfigur packender Film, der im Gedächtnis haften bleibt.