Locarno 2013: Kunstanstrengungen und schwächelnde Piazza - Eine Bilanz

Anstrengend war der Wettbewerb des 66. Filmfestivals von Locarno. Süffiges Kino war Mangelware, nicht immer gelungenes und oft zähes Kunstkino dominierte. Auf der Piazza zeigte man zwar zahlreiche Weltpremieren, musste dafür aber wohl auf große Filme verzichten.

Mehr renommierte Regisseure als in den letzten Jahren fanden sich heuer im Wettbewerb von Locarno. Nach Ende des Festivals kann man aber davon ausgehen, dass hier Locarno nicht dem in zwei Wochen beginnenden Festival von Venedig etwas weggeschnappt hat, sondern dass man am Lido auf diese Werke verzichtet hat. Zu extrem sind wohl für die ganz großen Festivals Berlin, Cannes und eben Venedig, die im Wettbewerb immer auch ein gewisses Maß an Unterhaltung bieten wollen, Filme wie Cornelio Porumboius "When Evening Falls on Bucharest or Matabolism"oder Albert Serras Siegerfilm "Historia de la meva mort - Story of My Death".

Dass in Locarno solche sperrigen Werke gleich reihenweise liefen, liegt aber sicher auch am Filmgeschmack des künstlerischen Leiters Carlo Chatrian. Langweilen konnte man sich zwar bei einzelnen Filmen, dass es an Abwechslung fehlte, kann man aber ebenso wenig behaupten wie, dass man mit biederen Filmchen, die eher ins Fernsehen als ins Kino passen, abgespeist wurde.

Den klassischen Dokumentarfilm fand man im Wettbewerb mit Yves Yersins "Tableau noir" ebenso wie mit Joaquin Pintos "E agora? Lembra-me" einen sehr persönlichen Essayfilm. Mit dem Giallo-Film spielten Hèlène Cattet und Bruno Forzani in "L´étrange couleurs des larmes de ton corps", doch bleibt der Film leider in einer inhaltslosen Stilübung stecken.

Aus der Ausgangssituation, dass ein Mann bei der Rückkehr von einer Geschäftsreise seine Frau nicht mehr vorfindet, ließe sich durchaus etwas machen. Spannend und dank des perfekten Spiels mit filmischen Mitteln wie Perspektiven, Farben und Sounddesign mit suggestiver Atmosphäre beginnt der Film auch. Wenn der Mann dann aber hinter jeder Tür und in den anderen Stockwerken des Hauses in einer Endlosschleife stets neue Mordszenen sieht, sich aber nichts auflöst und offen bleibt, ob er träumt, psychische Probleme hat oder unter dem Einfluss von Alkohol oder Drogen steht, verflüchtigt sich diese Spannung rasch.

Gegenpol zu solchen Experimenten bot Emmanuel Mouret, der in "Une autre vie" ein Melodram im Stil des US-Kinos der 50er Jahre zu erzählen versucht, aber sich eher im Kitsch einer Rosamunde Pilcher-Verfilmung verliert. Ständig wartet man hier auf eine ironische Brechung, auf einen Twist, durch den sich das Ganze als Spiel mit den Genremustern entpuppt, doch Mouret erzählt seine von einer penetranten Musiksauce untermalte Liebesgeschichte, die zudem an der malerischen Côte d´Azur spielt, unerbittlich bis zum Ende. Mag so ein Film im Wettbewerb eines A-Festivals auch kaum etwas verloren haben, so zeigt seine Programmierung doch auch wieder die Vielfalt dieses Programms.

Im Gegensatz zum Wettbewerb, dem Chatrian noch mehr Profil verlieh als seine Vorgänger, setzte der neue künstlerische Leiter beim Piazza-Programm wie gewohnt auf Populäres. Weil die Programmierung dabei aber immer von unterschiedlichsten Zwängen bestimmt ist, konnten die Filme nicht immer überzeugen. Aufgrund der Nähe zu Italien zeigt man eben gerne auch einen italienischen Film, doch "La variabile umana" erreichte nicht einmal das Niveau eines guten "Tatort".

Zwei Stunden lang ganz gut unterhalten konnte man sich immerhin bei der Jennifer Aniston-Komödie "We´re the Millers", Charme versprühte die britische RomCom "About Time", aber wieso man den Berlinale-Erfolg "Gloria", der in Deutschland und Österreich schon angelaufen ist, noch auf der Piazza zeigte, bleibt ein Rätsel.

Der Schweizer Film sorgte vor allem mit Jean-Stéphane Brons Dokumentarfilm "L´expérience Blocher" für Aufsehen, doch kommt Bron dem rechtspopulistischen Politiker nicht wirklich nahe. Kaum mehr als aus dem Wikipedia-Artikel zu Blocher erfährt aus dem Film, spannend wird es fast nur, wenn Bron sich selbst ins Spiel bringt und über seine eigene Position als Filmemacher nachdenkt.

Altstars von Christopher Lee über Faye Dunaway bis Jacqueline Bisset wurden zwar geehrt, aber die großen Filme fehlten eindeutig auf der Piazza. Schmerzhaft bewusst machte dies ein Newsletter des Zurich Film Festivals, in dem ausgerechnet während der Tessiner Konkurrenzveranstaltung als heurige ZFF-Galapremieren - freilich keine Weltpremieren - unter anderem Atom Egoyans "The Devils Knot", Alfonso Cuaróns "Gravity" oder J.C. Chandors "All is Lost" angekündigt wurden.

Etwas dürftig wirkte im Vergleich dazu das heurige Piazza-Programm, das freilich auch immer davon abhängt, welche Filme man bekommen kann. Unübersehbar ist aber, dass das ZFF von Jahr zu Jahr ein stärkerer Konkurrent für Locarno wird und man am Lago Maggiore sich sicher Gedanken machen muss und wird, wie man hier gegensteuern kann.